„Die verfassungsrechtliche Debatte ist damit nicht beendet. Politisch bleibt der Handlungsbedarf für die gleiche Teilhabe von Frauen in Parlamenten und politischen Ämtern unverändert bestehen.“, kommentierte die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds e.V. (djb), Prof. Dr. Maria Wersig, die Entscheidung des VGH. Es handelt sich bei dem Urteil um die erste gerichtliche Entscheidung über eine konkrete Regelung zur Parität von Männern und Frauen in Parlamenten in Deutschland. Das Paritätsgesetz in Thüringen war nach dem brandenburgischen Paritätsgesetz erst das zweite Gesetz, mit dem eine solche Regelung im Wahlrecht in Deutschland getroffen wurde.
Der VGH entschied im Normenkontrollverfahren auf Antrag einer rechten Fraktion (AfD). Im Ergebnis sah die Mehrheit von sechs Richtern des aus neun Mitgliedern bestehenden Gremiums in der Verpflichtung der politischen Parteien zur paritätischen Listenaufstellung eine Beeinträchtigung des Rechts auf Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) sowie das Recht der politischen Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 Abs. 1 GG) verletzt.
Hiergegen überzeugen mit guten Argumenten die Sondervoten von drei Richter*innen. Sie vermissen in der Entscheidung der Mehrheit eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Verfassungsauftrag in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Thüringer Verfassung (entsprechend Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG). Sie führen vielfältige Belege für die strukturelle Benachteiligung von Frauen, gerade in der Politik, an. Gegen diese Benachteiligung sei die Paritätsregelung ein nach der Thüringer Verfassung zulässiges Förderinstrument, durch das Chancen-, wenn auch nicht Ergebnisgleichheit erzeugt werde. Die Mehrheitsmeinung setze sich nicht ausreichend mit der Eingriffsintensität gegen die genannten Freiheiten, insbesondere des Wahlrechts, auseinander. Bei anderen als zulässig anerkannten Regelungen sei der Eingriff deutlich stärker, z. B. bei der Sperrklausel, den Überhangmandaten oder dem Mindestwahlalter.
„In den überzeugenden Argumenten der Sondervoten sehen wir eine Signalwirkung für die anstehende Diskussion und baldige Entscheidung in Brandenburg. Die Verfassung lebt und eine geschichtsbewusste Interpretation des Frauenfördergebots des Art. 3 Abs. 2 GG kann mit guten Gründen zu dem Ergebnis gelangen, dass Paritätsregelungen unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen vertretbar und verhältnismäßig sind. Und auch das inzwischen sogar paritätisch besetzte Bundesverfassungsgericht wird früher oder später zu diesem Thema entscheiden.“ so Wersig weiter.
Quelle: djb-Pressemitteilung vom 15.7.2020
Elke Ferner, Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrats, erklärt dazu: „Das Urteil ist ein herber Rückschlag für die Gleichstellung in Thüringen und darüber hinaus. Die Entscheidung mit der Freiheit und Gleichheit der Wahl zu begründen, ignoriert, dass Wähler*innen auch heute das Geschlechterverhältnis im Parlament nicht beeinflussen können, wenn auf Wahllisten hauptsächlich Männer stehen. Unser Grundgesetz verpflichtet den Staat in Art. 3, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern durchzusetzen und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken. Das gilt auch in Thüringen. Deshalb muss jetzt das Bundesverfassungsgericht klären, ob Paritätsgesetze ein legitimes Mittel sind, dieses Gleichberechtigungsgebot zu erfüllen.“
Seiner verfassungsmäßigen Verpflichtung kommt der Staat bis heute in vielen Bereichen nur ungenügend nach. Das trifft auch auf die gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern in Parlamenten und Politik zu: So liegt der Frauenanteil im Bundestag, in allen Landesparlamenten, in Kreis- und Gemeinderäten deutlich unter dem Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung, Tendenz fallend. Thüringen und Brandenburg haben deshalb im letzten Jahr Paritätsgesetze auf den Weg gebracht. Dass der mit acht Richtern und nur einer Richterin besetzte Weimarer Verfassungsgerichtshof trotz des Gleichstellungsgebotes aus Artikel 3 GG nun der Klage der Partei mit dem geringsten Frauenanteil stattgegeben hat, ist völlig unverständlich. „Deshalb muss nun das höchste deutsche Gericht Verbindlichkeit in der Sache herstellen und ein Zeichen setzen, dass gleichberechtigte Teilhabe von Frauen elementar für unsere Demokratie ist,“ so Ferner weiter.
Auf Bundesebene konnten sich die Fraktionen im Deutschen der Bundestag nicht einigen, die längst überfällige Wahlrechtsreform zur Begrenzung der Zahl der Abgeordneten auf den Weg zu bringen. Der Deutsche Frauenrat setzt sich dafür ein, anstehende Wahlrechtsreformen zu nutzen, um Geschlechterparität bei Listen- und Direktmandaten zu implementieren. Der Aufruf #mehrfrauenindieparlamente hat eine breite Unterstützungswelle für Parität in Parlamenten und Politik ins Rollen gebracht.
Quelle: Pressemitteilung des FR vom 15.7.2020
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