816 Verstöße gegen Dienstpflichten – aber das Beamtenverhältnis bleibt bestehen!

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Das BVerwG hat am 28.3.2023 (Az. BVerwG 2 C 20.21)1 eine in den Augen der Öffentlichkeit völlig unverständliche, dem Interesse der Steuerzahler aber auch des Berufsbeamtentums selbst widersprechende Entscheidung getroffen: Ein Beamter, der in 816 nachgewiesenen Fällen insgesamt 1614 Stunden zu spät zum Dienst erschien, kann nach dem BVerwG nicht aus dem Dienst entfernt werden! Ist diese Entscheidung gleichwohl richtig?

Liebe Leserin, lieber Leser,

folgendes hat sich zugetragen:

Sachverhalt:

Im März 2015 erlangte der Dienstherr Kenntnis davon, dass der Beamte in einer Vielzahl von Fällen die Kernarbeitszeit nicht eingehalten hatte, weil er morgens ständig zu spät gekommen war. Daraufhin leitete er im November 2015 ein Disziplinarverfahren ein. Auf die 2018 erhobene Disziplinarklage hat das VG Düsseldorf (Az.: VG 38 K 9264/18.BDG) mit Urteil vom 14. Mai 2019 auf Entfernung aus dem Beamtenverhältnis entschieden, weil der Beamte im Zeitraum zwischen 2014 und 2018 an insgesamt 816 Tagen bei bestehender Dienstfähigkeit den Dienst bewusst erst nach Beginn der Kernarbeitszeit angetreten habe; der Umfang seiner Verspätung summierte sich auf insgesamt 1 614 Stunden. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung des Beklagten hat das OVG NRW (Az.: 3d A 2713/19.BDG) mit Urteil vom 16. September 2020 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ein vorsätzliches Fernbleiben vom Dienst über einen Zeitraum von mehreren Monaten oder ein Fernbleiben für Teile von Arbeitstagen, das in der Summe einen vergleichbaren Gesamtzeitraum erreiche, indiziere die strengste Disziplinarmaßnahme – also die Entfernung aus dem Dienst.

Die Entscheidung des BVerwG:

Das Bundesverwaltungsgericht hat jetzt auf die Revision des Beklagten hin die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und den Beamten lediglich um eine Besoldungsstufe zurückgestuft. Die Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Dienst sei – so das Gericht – nicht gerechtfertigt, weil die aufaddierte Gesamtzeit der täglichen Verspätungen nicht einem monatelangen unerlaubten Fernbleiben vom Dienst gleichgesetzt werden könne. Mildernd sei außerdem zu berücksichtigen, dass der Dienstherr zunächst dem Verhältnismäßigkeitsgebot entsprechend mit weniger gravierenden disziplinaren Maßnahmen auf den Beamten einwirken hätte müssen. Im konkreten Fall wäre es auch erforderlich gewesen, das Verhalten zunächst zu missbilligen und nach dem Bekanntwerden der Kernzeitverstöße die Dienstbezüge zu kürzen.

Stellungnahme:

Das Urteil gibt in der Öffentlichkeit Anlass zu folgender Frage:

Sind Bundesrichter so weit von Realität und Praxis entfernt, dass sie weder die Probleme der Basis noch das Interesse der Allgemeinheit und speziell des Berufsbeamtentums überhaupt noch kennen?

Gerade das Verfahren bei der Entfernung aus dem Dienst, aber auch die Ruhestandsversetzung bei Dienstunfähigkeit dauern entschieden zu lange! Die Kritik der Öffentlichkeit an den Verfahren besteht hier nicht nur seit langem, sie ist auch in vollem Umfang berechtigt!

Trägt das angeführte Urteil des BVerwG v. 28.3.2023 dazu aber tatsächlich in wesentlichem Maße bei?

Im Rahmen der öffentlichen Berichterstattung wird Folgendes verkannt: Der Beamte hat nach dem vorliegenden Sachverhalt seine Aufgaben inhaltlich und nach der durch das Arbeitszeitrecht vorgeschriebenen Gesamtarbeitszeit ordnungsgemäß erfüllt. Er hat seinen Dienst zwar ständig erst nach dem vorgeschriebenen Dienstzeitbeginn angetreten, die dadurch anfallende Fehlzeit hat er aber von sich aus abends wieder eingebracht.

Damit steht fest: Es lag im Verantwortungsbereich seiner Dienststelle, ihn entweder zunächst zu einem Wohlverhalten aufzufordern oder ihn gegebenenfalls unter Androhung disziplinarrechtlicher Folgen entsprechend abzumahnen. Indem die Behörde dies unterlassen hat, könnte hier sogar davon ausgegangen werden, dass die Amtsleitung bei Kenntnis des permanenten Zuspätkommens dieses Verhalten evtl. sogar gebilligt hat, zumal dem Beamten weder ein qualitatives noch ein quantitatives Fehlverhalten vorzuwerfen war. Der Allgemeinheit ist dadurch jedenfalls kein nachweisbarer Schaden entstanden.

Der Fall zeigt eindeutig:

  • Auch im öffentlichen Dienst sollte bei der Arbeitszeit nicht in erster Linie auf Formalien, sondern auf das Arbeitsergebnis geachtet werden.

  • Ein Dienstpflichtverstoß läge erst gar nicht vor, wenn die Arbeitszeitvorschriften von Bund und Ländern flexibler gestaltet würden und – was gerade auch bei Beamten angezeigt wäre – den Bediensteten ein größeres Maß an Vertrauen entgegengebracht würde (Stichwort: „Vertrauensarbeitszeit“).

Die Entscheidung des BVerwG ist also zumindest verständlich....

Ihr

Dr. Maximilian Baßlsperger


Lesen Sie dazu auch die Beiträge:


Literaturhinweis:

Weiß/Niedermaier/Summer: Art. 87 BayBG, Rn. 1ff.


1 https://www.bverwg.de/pm/2023/23

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4 Kommentare zu diesem Beitrag
kommentiert am 16.05.2023 um 08:59:
Sehr geehrter Herr Schulz!' Danke für Ihren Kommentar, der die Ausführungen im Blog sehr gelungen ergänzt!
kommentiert am 15.05.2023 um 09:51:
Das Urteil ist nachvollziehbar, auch wenn die verhängte Disziplinarstrafe immer noch zu hoch erscheint, eine Geldbuße oder die befristete Kürzung der Dienstbezüge angemessener erscheinen. Denn, dem Dienstherren ist hier wohl völliges Organisationsversagen vorzuwerfen. Wem im Frühjahr 2018 erst auffällt, dass in den zurückliegenden 5 Jahren der Beginn der Arbeitszeit durch häufiges Zuspätkommen verletzt wurde, der in der Folge administrativ-akribisch die Anzahl der Verstöße aufaddiert und dann ohne jedes Augenmaß dieses Verhalten mit einem Rausschmiss quittiert, sollte sich wohl besser erst einmal Gedanken zu seinen Strukturen, Prozessen und seiner Organisation Gedanken machen, darüber hinaus monitoren, ob seine Führungsverantwortlichen geeignet, zumindest aber ausreichend sensibilisiert sind. Und anstatt einen Mitarbeiter, der im Übrigen die morgens fehlende Zeit am Abend nacharbeitet, dem weder Betrug, Veruntreuung oder sonst wie das Verursachen eines materiellen Schadens bei 100 % Leistungserbringung vorzuwerfen sind, vor den Kadi zu bringen, sollte er auch in Erwägung ziehen, flexiblere Arbeitszeitmodelle in der Behörde einzuführen, denn diese sind im 21. Jahrhundert auch im öffentlichen Sektor schon angekommen und werden weit verbreitet gelebt. Da der Mitarbeiter die morgens versäumte Zeit scheinbar unproblematisch nacharbeiten konnte, spricht dafür, das dies möglich scheint und keine äußeren Zwänge wie Öffnungszeiten oder Gruppendienstpläne dagegen sprechen. Abschließend noch mit Blick auf den demografischen Wandel, den immer größeren Fachkräftemangel, den immer schärfen Wettbewerb um die besten Köpfe sowie die stetig wachsenden Schwierigkeiten, Stellenvakanzen zu schließen einerseits und die ständige Wandlung von Bedürfnissen und Ansprüchen einer modernen Arbeitswelt, hier vor allem auch dies sich ändernden den Einstellungen, Vorstelllungen und Werten der sie belebenden Akteure, anderseits, der Tipp, Bereitschaft zum Wandeln zu zeigen, um am Ende nicht abgehängt zu werden. Denn auf ein ausschließlich mit Restriktion und ständigem Leinenzwang gestaltetes Arbeitsumfeld können Beschäftigte heute nicht mehr gebunden werden. Steffen Schulz, selbst in Personalverantwortung und Referatsleiter in HR
kommentiert am 08.05.2023 um 11:36:
Eine Disziplinarmaßnahme war auf jeden Fall veranlasst. Der Beamte ist an Recht und Gesetz gebunden und hier lag mehrfach ein gravierender Verstoß gegen geltendes Arbeitszeitrecht (AZV) vor.
kommentiert am 08.05.2023 um 08:21:
Da hätte zunächst gegen die Vorgesetzten ein Disziverfahren eingleitet werden müssen!
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