Dritter Teil Bescheide (Grundlagen) § 20 Bescheide im Widerspruchsverfahren III. Der Widerspruchsbescheid 4. Die Rechtsbehelfsbelehrung

4.1Allgemeines

Nach § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist der Widerspruchsbescheid mit einer „Rechtsmittelbelehrung“ zu versehen. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, handelt es sich um einen Redaktionsfehler472, es muss richtig „Rechtsbehelfsbelehrung“ heißen. Was oben beim erstinstanzlichen Bescheid zu Begriff und Form der Rechtsbehelfsbelehrung sowie zu den Folgen ihres Fehlens oder ihrer Unrichtigkeit ausgeführt worden ist473, gilt auch hier. Nach § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Klagefrist von einem Monat nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts bzw. Zustellung des Widerspruchsbescheids (§ 74 VwGO) nicht zu laufen, wenn dem Widerspruchsbescheid keine oder eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt wurde; die Beteiligten können in diesem Fall innerhalb eines Jahres nach der Zustellung des Widerspruchsbescheides Klage erheben (§ 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Hier von einer „einjährigen Klagefrist“ zu sprechen, ist im Hinblick auf den Wortlaut des § 58 Abs. 1 VwGO nicht korrekt, denn die Klagefrist beträgt nach § 74 VwGO immer einen Monat, sodass auch die Formulierung „Die einmonatige Klagefrist verlängert sich auf ein Jahr.“ verfehlt ist. Vielmehr tritt an die Stelle der einmonatigen Klagefrist die Jahresfrist. Die Erteilung einer „richtigen“ Rechtsbehelfsbelehrung setzt voraus, dass sich die Widerspruchsbehörde darüber im Klaren ist, wer welchen förmlichen Rechtsbehelf wogegen einlegen kann. Die mit dem Rechtsschutz gegen den Ausgangs- und den Widerspruchsbescheid zusammenhängenden Fragen wurden an anderer Stelle474 bereits eingehend erörtert; es wird hierauf verwiesen. Die Klärung dieser Fragen ist in der Praxis von großer Bedeutung, da ansonsten die am Widerspruchsverfahren Beteiligten eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung erhalten, sodass die Klagefrist nicht zu laufen beginnt mit der Folge des Eintritts der Jahresfrist, was schon aus Gründen der Rechtssicherheit vermieden werden sollte.

472

Vgl. § 19 RdNr. 243. Der richtige Wortlaut „Rechtsbehelfsbelehrung“ findet sich jedoch in Nr. 4.1 Satz 1 der IMBek über den Vollzug des Art. 15 (jetzt Art. 12) AGVwGO vom 19.08.2021 (BayMBl. Nr. 627).

473

Vgl. § 19 RdNrn. 242 ff.

474

Vgl. § 20 RdNrn. 129 ff., insbes. 144 ff.

475

Vgl. BayVGH, U. v. 16.10.1986 – 12 N 84 A. 655 – APF 1987, 222 = BeckRS 186, 2848 = NVwZ 1987, 901. Vgl. aber auch OVG Lüneburg, B. v. 26.07.2010 – 4 LA 373/08 – BeckRS 2010, 51400 = NVwZ-RR 2010, 861, wonach bei einer Verpflichtungsklage Angaben dazu, gegen welche Entscheidung welcher Rechtsbehelf gegeben ist, nicht zum notwendigen Inhalt einer Rechtsbehelfsbelehrung gehören.

475a

Vgl. § 19 RdNr. 248.

475b

BSG, U. v. 06.12.1996 – 13 RJ 19/96 – BeckRS 1987, 40348 = BSGE 79, 293 = NVwZ 1998, 109; BSG, U. v. 09.12.2008 – BeckRS 2009, 58350 = SAR 2009, 50 = FEVS 60, 550.

475c

OVG Münster, B. v. 04.03.2009 – 5 A 924/07 – BeckRS 2009, 32219 = NJW 2009, 1832.

475d

Die Ausführungen in § 19 RdNr. 251 (Beispiel Nr. 3 mit Fußnoten 357 bis 357b) zur Verwendung des Begriffs „Bekanntgabe“ in den Rechtsbehelfsbelehrungen von Ausgangsbescheiden, die förmlich zugestellt werden, gelten entsprechend, wenn die Behörde in der Rechtsbehelfsbelehrung eines Widerspruchsbescheides, den sie förmlich zustellt, den Begriff der „Bekanntgabe“ statt „Zustellung“ gebraucht. Wie schon oben in § 19 RdNr. 251 wird verwiesen auf das BVerwG, U. v. 27.04.1990 – 8 C 70/88 – BeckRS 1990, 2267 = NJW 1991, 508 (Zustellung durch die Post mit Zustellungsurkunde), BVerwG, U. v. 31.05.2006 – 6 B 65/05 – BeckRS 2006, 23869 = NVwZ 2006, 943 (Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis nach § 5 Abs. 1 VwZG), BayVGH, E. v. 02.02.1977 – 685 VII 76 – FHOeffR 28 Nr. 5411 = BayVBl 1977, 341 – mit abl. Stellungnahme Josef Hingerl 1977, 607 (Zustellung durch die Post mittels (Übergabe-)Einschreiben) und Büchner BayVBl 2000, 446 (ebenfalls (Übergabe-)Einschreiben). Vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO; § 58 RdNr. 11 und Eyermann, VwGO, § 58 RdNr. 11. Zudem definiert § 2 Abs. 1 VwZG die Zustellung als die Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Dokuments in der in diesem Gesetz bestimmten Form, was bedeutet, dass die Zustellung eben auch eine bestimmte (förmliche) Art der Bekanntgabe eines Verwaltungsakts darstellt. Im Anwendungsbereich der VwGO hat der Meinungsstreit kaum praktische Bedeutung, weil das Rechtsbehelfsbelehrungsmuster des StMI für Widerspruchsbescheide (abgedruckt in § 20 RdNr. 404) anknüpfend an § 73 Abs. 3 Satz 1 und § 74 Abs. 1 Satz 1 VwGO ohnehin den Begriff „Zustellung“ (statt „Bekanntgabe“) verwendet. Im Anwendungsbereich des SGG ist § 85 Abs. 3 Sätze 1, 2 dieser Norm einschlägig, wonach die Behörde die Wahl zwischen der einfachen Bekanntgabe und der förmlichen Zustellung des Widerspruchsbescheides hat. In Anbetracht der zwar nicht überzeugenden, aber gleichwohl maßgebenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist im Anwendungsbereich des SGG den Widerspruchsbehörden dringend zu empfehlen, bei förmlicher Zustellung des Widerspruchsbescheides in dessen Rechtsbehelfsbelehrung nicht nur von der „Bekanntgabe“, sondern der „Zustellung“ zu sprechen.

475e

So auch Eyermann, VwGO, § 73 RdNr. 21. A. A. Redeker/von Oertzen, § 73 RdNr. 37, und Gailus/Verleger, JuS 1989, 395/402: Eine Rechtsbehelfsbelehrung sei auch bei einem stattgebenden Widerspruchsbescheid notwendig, weil u..U. infolge eines Irrtums dem Begehren des Widerspruchsführers nicht voll entsprochen werde. Für die Auffassung, dass Widerspruchsbescheiden ausnahmslos eine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt werden soll, spricht, dass bei Verzicht auf eine Rechtsbehelfsbelehrung Ausgangs- und Widerspruchsbescheid erst nach einem Jahr ab Zustellung des Widerspruchsbescheides bestandskräftig werden (§ 58 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 VwGO).

476

Dazu ausführlich § 20 RdNr. 176a ff., vor allem 176c bis e.