HBR I – Personalvertretungsrecht HPVG Kommentar §§ 1-83 (Erster Teil Personalvertretung) §§ 60-83 (Sechster Abschnitt Beteiligung des Personalrats) §§ 74-76 (Dritter Titel Beteiligung in sozialen Angelegenheiten) § 74 [Fälle der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten] Kommentierung B. Erläuterungen I. Mitbestimmungsrecht

1. Mitbestimmung als Recht und als Pflichtaufgabe

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenMitbestimmungsrechtMitbestimmung in sozialen AngelegenheitenPflichtMitbestimmung in sozialen AngelegenheitenRechte

§ 74 Abs. 1 ordnet die dort näher bezeichneten sozialen Angelegenheiten der Beschäftigten einer Dienststelle oder mehrerer Dienststellen (§ 83 Abs. 2–4 ) der Mitbestimmung des nach § 83 zuständigen Personalrats zu. Es handelt sich um eine zwingende , nicht abdingbare Vorschrift, die für beide Seiten der Dienststellenverfassung verbindliche Rechte und Pflichten festlegt. § 74 Abs. 1 begründet i. V. m. den §§ 69 ff.  – ebenso wie die anderen Beteiligungstatbestände – Rechte des Personalrats, konkretisiert aber auch seine Pflichten.

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenPflichtMitbestimmung in sozialen AngelegenheitenVerwirkungMitbestimmung in sozialen AngelegenheitenVerzicht

Für den Personalrat bzw. die Stufenvertretung oder den Gesamtpersonalrat wird durch § 74 eine gesetzliche Pflichtaufgabe normiert, deren Wahrnehmung zu seinen Amtspflichten gehört (Fitting u. a. § 87 BetrVG Rn. 3). Das Mitbestimmungsrecht muss im konkreten Fall tatsächlich wahrgenommen werden (BAG 14.12.1999 – 1 ABR 27/98 – NZA 2000, 783 ; 23.6.1992 – 1 ABR 53/91 – NZA 1992, 1098, 1099 ; 14.2.1967 – 1 ABR 6/66 – NJW 1967, 1246, 12 ; Klebe in Däubler u. a. § 87 BetrVG Rn. 16, 18). Auf die Ausübung des Mitbestimmungsrechtes kann nicht verzichtet werden (BAG 12.3.2019 – 1 ABR 42/12 – NZA 2019, 843, 848  Rn. 57; 22.8.2017 – 1 ABR 5/16 – AP Nr. 144 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit Rn. 25; 14.12.1999, a.a.O. ; Klebe  a.a.O. Rn. 49; Däubler in Däubler u. a. Einl. Rn. 99; Wiese in GK-BetrVG § 87 BetrVG Rn. 5, 86; Berg in Altvater u. a. vor § 66 BPersVG Rn. 5). Das entspricht der schon zum BRG 1920 vertretenen Auffassung (RAG 4.2.1931 – RAG RB 63/30 – Bensh. Slg. 129, 131). Aus diesem Grund kann das Mitbestimmungsrecht materiellrechtlich auch nicht verwirken (BAG 22.8.2017, a.a.O.; 28.8.2007 – 1 ABR 70/06 – NZA 2008, 188, 189  Rn. 14m. w. N.; Däubler a.a.O.; Berg  a.a.O. Rn. 4; Wiese  a.a.O. Rn. 5). Allenfalls kann die Möglichkeit einer prozessualen Geltendmachung des Mitbestimmungsrechtes im konkreten Einzelfall verwirken (vgl. BAG 28.8.2007, a.a.O. ; 14.12.1999 – 1 ABR 27/98 – NZA 2000, 783 ; 14.2.1967, a.a.O. ; BVerwG 9.12.1992 – 6 P 16.91 – PersR 1993, 212 ; Berg  a.a.O.). Das hat jedoch keine Folgen für danach eintretende Mitbestimmungsfälle (BAG 14.2.1967, a.a.O. ).

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenVerzicht

Es ist im Hinblick auf den zwingenden Charakter des Mitbestimmungsrechts nicht zulässig, der Dienststellenleitung die Regelung einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit zur freien Ausgestaltung zu überlassen (BAG 29.1.2008 – 3 AZR 42/06 – NZA-RR 2008, 469, 472  Rn. 35; 28.8.2007 – 1 ABR 70/06 – NZA 2008, 188, 189  Rn. 14; 26.4.2005 – 1 AZR 76/04 – NZA 2005, 892, 893 ; 3.6.2003 – 1 AZR 349/02 – NZA 2003, 1155, 1158 ; Berg in Altvater u. a. vor § 66 BPersVG Rn. 5; Richardi in Richardi § 87 BetrVG Rn. 75; Däubler in Däubler u. a. Einl. Rn. 100; Wiese in GK-BetrVG § 87 BetrVG Rn. 6). Der Dienststellenleitung müssen zumindest gewisse sachliche Vorgaben für jeweils zu treffenden Entscheidungen gemacht werden, anhand derer kontrolliert werden kann, ob die im Mitbestimmungsverfahren erfolgten Festlegungen im konkreten Einzelfall beachtet worden sind.

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenAusübungBeschluss

Die durch § 74 Abs. 1 vorausgesetzte Ausübung des Mitbestimmungsrechts verlangt unter Berücksichtigung des § 69 Abs. 2 , dass der Personalrat über die konkrete Angelegenheit, d. h. den nach § 69 Abs. 2 S. 1 gestellten Zustimmungsantrag der Dienststellenleitung in einer ggf. für die Behandlung dieser Frage einberufenen Sitzung Beschluss fasst (vgl. Klebe in Däubler u. a. § 87 BetrVG Rn. 19; Wiese in GK-BetrVG § 87 BetrVG Rn. 85), sei es, dass ausdrücklich die Zustimmung erklärt wird, sei es, dass die Zustimmung aus näher bezeichneten Gründen verweigert wird, sei es, dass auf eine Äußerung verzichtet wird, sodass die Zustimmungsfiktion nach § 69 Abs. 2 S. 4 eintritt. Jede vorgenannte Variante bedarf einer ausdrücklichen Beschlussfassung, deren Inhalt der nach § 38 anzufertigenden Sitzungsniederschrift zu entnehmen sein muss. Das schlicht Untätigbleiben genügt für die vorausgesetzte tatsächliche Wahrnehmung des Mitbestimmungsrechtes nicht und stellt eine Verletzung der amtlichen Pflichten des Personalrats oder der/s die Sitzungseinladung versäumenden Vorsitzenden dar. Die Anwendung von § 69 Abs. 2 S. 4 wird durch eine solche Untätigkeit allerdings nicht eingeschränkt.

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenZweck

§ 74 konkretisiert die in § 62 Abs. 1 genannten allgemeinen Aufgaben des Personalrats durch das zu seinen Gunsten nach § 69 Abs. 1 S. 1 bestehende Zustimmungserfordernis und gibt ihm ein Instrument in die Hand, die gemeinsamen Interessen der Beschäftigten effektiv(er) zur Geltung zu bringen. Das Zustimmungserfordernis stellt sich in der Sache als Anspruch der Repräsentanten der Beschäftigten, des Personalrats, auf vertragliche Teilnahme an der Regelung sozialer Angelegenheiten in der Dienststelle dar (§ 1 Rn. 248 401 , 430 ; vor § 74 Rn. 32 m. w. N.; zur gleichberechtigten Teilhabe Kohte in HaKo-BetrVG § 87 BetrVG Rn. 2). Diesem Zweck des Mitbestimmungsrechts wird nicht entsprochen, wenn eine von ihm erfasste Angelegenheit der Dienststellenleitung zur alleinigen Gestaltung überlassen wird (Rn. 47 ).

Mitbestimmung in sozialen AngelegenheitenUnterlassungRechtsfolgen

Die Pflichtenstellung des Personalrats hat zur Folge, dass er Maßnahmen, die ohne seine Beteiligung nach Maßgabe des § 74 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1 2 erfolgen, entgegentreten muss und sein insoweit einschlägiges Mitbestimmungsrecht geltend machen muss. Das erfordert ggf. die Einleitung eines personalvertretungsrechtlichen Beschlussverfahrens, unter Umständen auch die Verfolgung der sich aus § 111 Abs. 2 ergebenden Ansprüche.