AbstandsflächenVerhältnis zum PlanungsrechtAbs. 1 Satz 3 regelt den Vorrang des Bauplanungsrechts gegenüber dem Af.-Recht: Af. sind nicht erforderlich, wenn planungsrechtlich an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Abs. 5 Satz 2 regelt den Vorrang für Gebäudeabstände, die sich aus städtebaulichen Satzungen oder örtlichen Bauvorschriften ergeben.
Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB1 können aus städtebaulichen Gründen abweichende Maße der Tiefe der Af. (s. auch Art. 81 Erl. 7.2) festgesetzt werden (vgl. hierzu OVG Münster, Urt. 21.8.2015 – 7 D 61/14.NE, juris und BVerwG, B. 7.12.2015 – 4 BN 47/15, BayVBl. 16, 388), geringere Grenzabstände nur beim Vorliegen besonderer städtebaulicher Gründe (OVG Lüneburg, B. 22.12.2014 – 1 MN 118/14, NVwZ-RR 2015, 325 LS = DÖV 2015, 347 = ZfBR 2015, 274 = BauR 2015, 620 = BRS 82, 285). Das Landesbauordnungsrecht bleibt im Übrigen unberührt: § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB stellt nur eine Rechtsgrundlage für die Regelung eines abweichenden Maßes der Abstandsflächentiefe dar. Hinsichtlich der Berechnung von Wandhöhen als Maßstab von H bspw. verbleibt es bei den Vorgaben des Art. 6. Zugleich wird – in inhaltlicher Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 5 Satz 2 – deutlich, dass städtebaulich motivierte Bebauungsplanfestsetzungen dem Af.-Recht vorgehen (s. auch Boeddinghaus BauR 07, 641, Schulte BauR 07, 1514/1520 ff.). Die städtebauliche Festsetzungsmöglichkeit ist v. a. für die offene Bauweise bedeutsam, sie wird überwiegend zu größeren Af.-Tiefen als nach Bauordnungsrecht führen (s. auch Söfker in EZBK § 9 Rn. 42b, 42c, 42d).
Im Übrigen gelten Af.-Recht und Planungsrecht gleichrangig nebeneinander.
Es gibt vielfache Überschneidungen mit dem Planungsrecht, insbes. mit den Vorschriften über die Bauweise (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, § 22 BauNVO2), die überbaubaren und die nicht überbaubaren Grundstücksflächen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB, § 23 BauNVO), die Stellung der baulichen Anlagen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB) und das Maß der baulichen Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB, ferner insbes. §§ 19, 20 BauNVO).
Speziell betreffend Windkraftanlagen kann Art. 82 mit der sog. 10-H-Regelung planungsrechtliche Auswirkungen haben.
Aus dem gleichrangigen Nebeneinander von Abstands- und Planungsvorschriften folgt, dass ein planungsrechtlich zulässiges Vorhaben bauordnungsrechtlich unzulässig sein kann (BVerwG, B. 6.1.1970 – IV B 57/69, DVBl. 70, 830 = DÖV 70, 350, B. 11.3.1994 – 4 B 53/94, UPR 94, 267 = BRS 56, 190) und umgekehrt (BVerwG, Urt. 23.8.1968 – IV C 103/66, BayVBl. 69, 26 = BBauBl. 71, 277). So können z. B. Flächen, die planungsrechtlich überbaubar sind, grundsätzlich nicht bebaut werden, wenn die Af. nicht gewahrt sind und kein Vorrang eines Bebauungsplans nach Abs. 5 Satz 2 oder nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB (s. auch OVG Bremen, Urt. 4.11.1986, 1 N 1/86, ZfBR 87, 51) besteht. Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzungen können nicht ausgeschöpft werden, wenn die Af. nicht eingehalten werden (vgl. auch VGH BW, B. 10.4.1995 – 3 S 608/95, BWVP 95, 186). Umgekehrt können Flächen trotz Einhaltung der Af. nicht überbaut werden, wenn sie planungsrechtlich nicht überbaubar sind. Die Planungsgrundsätze des § 1 Abs. 5 bis 7 BauGB werden im Allgemeinen für Bebauungspläne größere Freiflächen als nach Art. 6 erforderlich machen.
Im Ergebnis dienen Abstands- und Planungsvorschriften zusammen dem gleichen Ziel einer möglichst aufgelockerten Bebauung im Interesse geordneter Wohn- und Arbeitsverhältnisse. Die Vorschriften können die gleiche Wirkung haben. In der Bauordnung stehen allerdings die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Bezug auf das Gebäude im Vordergrund, im Planungsrecht die städtebauliche Funktion und der Bezug auf den Boden. Die bauordnungsrechtlichen Af.-Vorschriften sind Mindestvorschriften, die grundsätzlich nicht unterschritten werden dürfen. Sie sind als Auffangregelung anzusehen. Im Interesse städtebaulicher Ziele sind in Bebauungsplänen u. U. Festsetzungen zu treffen, die deutlich größere Abstände als die Af. der BayBO ergeben können. Die Überschneidungen sind eine Folge der verschiedenen gesetzgeberischen Zuständigkeiten für das Bauordnungs- und das Planungsrecht. Nach richtiger Auffassung bestehen gegen eine derartige „flexible Schnittstelle“ zwischen Boden- und Bauordnungsrecht und ein „kompetenzielles Kondominium“ keine kompetenzrechtlichen Bedenken (Schulte BauR 07, 1514/1523 ff., Jäde ZfBR 08, 538/546). Das BVerwG (Urt. 11.10.2007 – C 8.06, NVwZ 08, 311 = DVBl. 08, 258 = UPR 08, 64 = ZfBR 08, 176 = BauR 08, 660 = BRS 71, 680) hat im Übrigen im Zusammenhang mit dem Außenwerbungsrecht klargestellt, dass es auf die normgeberische Zielsetzung ankomme. Eine Norm, die im Bauordnungsrecht eines Landes enthalten und nach Entstehungsgeschichte und Verwaltungspraxis dem „Baupolizeirecht“ im herkömmlichen, traditionellen Sinn zuzuordnen sei, sei nur kompetenzwidrig, wenn der Nachweis gelinge, dass die geregelte Materie in den Bereich des Bodenrechts falle.
Das Abstandsflächenrecht ist nichtrevisibles Landesrecht (vgl. BVerwG, B. 16.8.2018 – 4 B 41.17, ZfBR 19, 67 LS. = BRS 86, 527).