Inhalt der Kapitel 1–16 1 Unionsrecht, Grundlagen der Rechtsanwendung und aktuelle Entwicklungen

1.4Risikobewertungen – u. a. Grundlage für Rechtsauslegung

Grundlagen und Normen

Als ein bedeutender Maßstab für die Rechtsauslegung im Veterinär- und Lebensmittelwesen ist im Primärrecht der EU nach Art. 168 Abs. 1 und 114 Abs. 3 AEUV das hohe Gesundheitsschutzniveau verankert. Dies findet sich ebenso in Art. 1 Abs. 1 der BasisVO. Damit geht bereits logischerweise einher, dass den einschlägigen Risikobewertungen eine hohe Bedeutung zukommt.

Nach der Systematik des EU-Lebensmittelrechts sind die Unternehmen u. a. gemäß Art. 17 BasisVO und Art. 3 Verordnung (EG) 852/2004 vollumfänglich für die Sicherheit der Lebensmittel und die Einhaltung der einschlägigen Normen verantwortlich. Gemäß ihrer unternehmerischen Freiheit legen sie ihre Produkte, Zutaten und Verarbeitungsverfahren von beispielsweise unauffälligen durcherhitzten Endprodukten bis hin zu risikoreichem Sushi, Tartar oder Speisen mit Rohei im Endprodukt fest. Im Rahmen der Eigenkontroll- und Sorgfaltspflichten haben die Lebensmittelunternehmen nach Art. 5 Verordnung (EG) 2004/852 ein auf HACCP-Grundsätzen beruhendes Managementsystem für Lebensmittelsicherheit zu implementieren. Dabei sind u. a. die einschlägigen betriebs- und produktspezifischen Risiken zu ermitteln, die Einhaltung der Basishygieneanforderungen zu gewährleisten und darüber hinaus bei kritischen Kontrollpunkten (CCP) u. a. durch Festlegung von Grenzwerten, Verifizierungen und ggf. Korrekturmaßnahmen sowie deren Dokumentation die entsprechenden Risiken auf ein akzeptables Niveau zu senken.

Im Zuge der Überwachung sind die Risikobewertungen eine bedeutende Schnittstelle von fachtechnischen gutachterlichen Bewertungen, beispielsweise durch Amtstierärzte oder Lebensmittelchemiker, und den rechtlichen Auslegungen im Rahmen des Vollzugs und ggf. nachfolgender Rechtstreitigkeiten. Ein besonderes Instrument für die behördliche Verifizierung von unternehmerischen Risikobewertungen sind die Audits.1

Definition Risiko

Nach der Definition in Art. 3 Nr. 24 der EU-KontrollV 2017 ist ein Risiko ein Produkt aus der Wahrscheinlichkeit des Eintretens einer die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen, den Tierschutz oder die Umwelt beeinträchtigenden Wirkung und der Schwere dieser Wirkung als Folge einer Gefahr. Gefahr ist gemäß Art. 3 Nr. 3 EU-KontrollV 2017 ein Agens oder ein Zustand, das bzw. der sich ungünstig auf die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen, auf den Tierschutz oder auf die Umwelt auswirken kann. Wie auch in anderen Fach- und Rechtsbereichen geht mit Gefahr somit sinngemäß die Frage einher, ob eine Schädigung grundsätzlich eintreten kann. Risiko bezeichnet die Eintrittswahrscheinlichkeit in Verbindung mit der möglichen Erheblichkeit.

Anforderungen an behördliche Beweiswürdigung – Amtsermittlungsgrundsatz

Für den behördlichen Nachweis von etwaigen intolerablen Risiken beispielsweise im Rahmen von Art. 5 Verordnung (EG) 852/2004 oder vermeidbare aerogene Kontaminationsrisiken entgegen Anhang II Kapitel I Nr. 2 lit. a) Verordnung (EG) 852/2004 ist im Rahmen der Beweiswürdigung insbesondere der Amtsermittlungsgrundsatz2 maßgeblich. Danach hat der Staat für Rechtseingriffe die zu Grunde liegenden Verstöße bzw. Risiken nachzuweisen hat. Hierfür können erforderliche Beweismittelerhebungen nach den einschlägigen Ermächtigungen3 herangezogen werden. Abweichungen hiervon sind nur ausnahmsweise im Rahmen der sogenannten Beweislastumkehr gegeben, beispielsweise wenn Normen dies explizit vorgeben oder wenn die Adressaten z. B. durch Rechtsverstöße in eine Art Garantenstellung o.Ä. kommen. Ein Beispiel für Letzteres sind festgestellte Kühlkettenverletzungen bei leichtverderblichen Lebensmitteln, wobei ein weiteres Inverkehrbringen durch ergänzende Probenahmen durch den Unternehmer und damit ein Nachweis der Unbedenklichkeit in Betracht kommen kann.

Beweiswürdigung bzgl. Risiken – Rahmenbedingungen nach EuGH und BVerfG

Nach vorstehendem Amtsermittlungsgrundsatz sind Verstöße und Risiken möglichst konkret nachzuweisen. Dazu hat das BVerfG mit einem Beschluss4 aus dem Jahr 2010 sinngemäß Folgendes ausgeführt: Wenn angemessen hohe gesundheitliche Risiken gegeben oder hochwertige Rechtsgüter gefährdet sind, so können auch abstraktere Nachweise bzw. adäquate fachliche Risikobewertungen zur Feststellung einer Tatbestandsverwirklichung mit Auslösung der Rechtsfolgen ausreichend sein. Auch dadurch wird mit Bezug auf den präventiven Ansatz der Gefahrenabwehr und das maßgebliche hohe Gesundheitsschutzniveau deutlich, dass bei belastbaren Indizien für hohe Risiken dann ggf. auch schon vor einer vollständigen Ausermittlung der Sachverhalte eingegriffen werden kann. Dieser Bogen darf jedoch nicht im Sinne eines überzogenen Verbraucherschutzes überspannt werden, da ansonsten mit kontraproduktiven Effekten zu rechnen ist.

Die beschriebenen nationalen Grundsätze und die Rechtsprechung des BVerfG sind kongruent mit dem Unionsrechtrahmen. Dieser stellt sich wie folgt dar: So hat der EuGH mit einem Urteil5 aus 2021 zu den Maßstäben der Risikobewertung Folgendes dargelegt: Wenn wissenschaftliche Ungewissheiten in Bezug auf das Vorliegen oder den Umfang von Gefahren für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt bestehen, können die Organe nach dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Gefahren in vollem Umfang nachgewiesen sind oder bis die nachteiligen Wirkungen für die Gesundheit eintreten. Ergänzende Anforderungen an die Konkretisierung von Risiken finden sich im „Noria“-Urteil6 und im „Schwabe/Queisser Pharma“-Urteil7 des EuGH.

Bestimmungsgemäßer und evtl. vorauszusehender Gebrauch als Grundlage für Risikoermittlung

Für die Ermittlung der Normschutzbereiche im Einzelfall sind ebenso das absehbare wahrscheinliche Verbraucherverhalten und das damit einhergehende maßgebliche Risiko bedeutend. Hierbei geht es um die Frage, ob das maßgebliche Risiko anhand eines bestimmungsgemäßen Gebrauchs eines Erzeugnisses zu ermitteln ist oder ob darüber hinaus auch noch ein vorhersehbares oder gar ein unvernünftiges Verbraucherverhalten relevant sind. Zumindest das unvernünftige Verhalten wird auch bei hohen Risiken dann als Lebensalltagsrisiko früher oder später dem Verantwortungsbereich des Verbrauchers zuzuschreiben zu sein, sodass staatliche Schutzmechanismen nicht erforderlich oder zulässig sind. Dies liegt beispielsweise regelmäßig vor, wenn Verbraucher auch ungeachtet der Durcherhitzungsweise Rohmilch verzehren oder Sushi oder Alkoholika in unvernünftigen Mengen.

Beispiel

Mit Bezug auf die Anforderungen an Risikobewertungen und die Beweiswürdigung hat der VGH Mannheim beispielsweise mit einem Beschluss8 aus 2020 die Nachweise für eine Feststellung einer gesundheitsschädlichen Wirkung eines Lebensmittels für unzureichend befunden. So kann eine gesundheitsschädliche Wirkung nicht schon allein angenommen werden, wenn der ADI-Wert (acceptable daily intake) überschritten wird; ggf. sind konkretisierende Risikobewertungen und Nachweise im Einzelfall erforderlich.

In diesem Verfahren wurde die ursprüngliche gutachterliche und behördliche Beanstandung nach Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO als verzehrsungeeignet vom VG Sigmaringen nach Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO modifiziert. Auch der VGH Mannheim hat in seinem o.g. Beschluss im Eilrechtsschutzverfahren und bei entsprechender summarischer Prüfung darauf hingewiesen, dass „aller Voraussicht nach“ Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO die zutreffende Norm für die Tragfähigkeit der behördlichen Untersagungsanordnung sei. Im Kern geht es beim Verfahren um die etwaige Gesundheitsschädlichkeit von Curcumin ab einer täglichen Aufnahmemenge pro kg Körpergewicht. Die derzeitigen Erkenntnisse beruhen auf einer EFSA-Stellungnahme aus 2010, einer früheren BfR-Empfehlung mit Verweisen auf erforderliche ergänzende Einzelfallbewertungen, eine ergänzende BfR-Stellungnahme aus Ende 2021 mit zusätzlichem Hinweis auf weiteren Forschungsbedarf. Nach der derzeitigen Datenlage können auch nur geringfügige Überschreitungen des ADI-Werts über einen längeren Zeitraum unerwünschte gesundheitliche Wirkungen haben. Die Entwicklung zeigt die Schwierigkeit der Thematik. Gemäß den Hinweisen des VGH ist hinsichtlich der einschlägigen Norm zunächst davon auszugehen, dass etwaige Diskussionen über die Gesundheitsschädlichkeit von Stoffen grundsätzlich dem (Wortlaut-)Tatbestand der Gesundheitsschädlichkeit nach Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO zuzurechnen sind. Jedoch kann unter besonderen Umständen auch eine Einordnung in die Tatbestandsmäßigkeit nach Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO möglich sein: Möglicherweise sind die Gerichte in vorstehenden Entscheidungen bei summarischer Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren davon ausgegangen, dass die Untersuchungsämter bzw. Behörden infolge von Nachweisschwierigkeiten der Gesundheitsschädlichkeit ursprünglich den Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO angewandt hatten. Ein derartiger Rückgriff als Quasi-Automatismus auf die niedrigere Norm wegen einer bloßen Nachweiserleichterung wäre unzulässig.

Dementgegen kann die ursprüngliche Einstufung nach Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO jedoch aus folgenden Gründen sachgerecht gewesen sein, was in einem entsprechenden Hauptsacheverfahren oder in ähnlichen Fällen geltend gemacht werden könnte:

  • -

    So umfasst die Systematik des Lebensmittelsicherheitsbegriffs in Art. 14 BasisVO selbst die beiden Tatbestände der Gesundheitsschädlichkeit und Verzehrsungeeignetheit, sodass ein gewisses Stufenverhältnis immanent ist.

  • -

    Dementsprechend ist auch bei der Beanstandung von Lebensmitteln infolge der quantitativen Keimgehalte die Systematik einer stufenmäßigen Einordnung anerkannt. Die Stufen gehen sinngemäß über einen Hinweis auf eine Kontamination oder ein entsprechendes Kontaminationsrisiko, Wertminderung, Verzehrsungeeignetheit bis hin zur Gesundheitsschädlichkeit. Dies ergibt sich insbesondere aus den mikrobiologischen Richt- und Warnwerten der Gesellschaft für Hygiene- und Mikrobiologie (DGHM) und Empfehlungen9 des Bundesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zur Einstufung bedenklicher Keime als wahrscheinlich gesundheitsschädlich nach Art. 14 Abs. 4 und als inakzeptable Kontamination nach Art. 14 Abs. 5 Verordnung (EG) 178/2002.

  • -

    Auch bei der Einstufung von verfaultem Salat o.Ä. bei Kontrollen vor Ort reicht die Einordnung als verzehrsungeeignet durch Fachpersonal mit Blick auf die beabsichtigte Rechtsfolge des Verwerfens oftmals aus; auf ergänzende Nachweise hinsichtlich einer etwaigen möglichen oder aber auch nicht nachweisbaren Gesundheitsschädlichkeit kann verzichtet werden, sowohl aus rechtlichen als auch fachlichen Erwägungen.

  • -

    Ferner deutet der Tatbestand der „Kontamination auf andere Weise“ und die Formulierung „ist zu berücksichtigen“ in Art. 14 Abs. 5 auf eine entsprechend breite Anwendbarkeit des Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO hin. Der Maßstab eines hohen Gesundheitsschutzniveaus für die Normauslegung gemäß Art. 168 Abs. 1, 114 Abs. 3 AEUV und Art. 1 BasisVO reicht dabei bis hin zu einer Unterstellung einer Kontamination.10

Vor diesem Hintergrund sind Fälle denkbar und liegen auch in der Praxis vor, wonach Nahrungsergänzungsmittel gegenüber Verbrauchern nachvollziehbarerweise „nur“ die vorteilhaften Wirkungen ausloben. Wenn in solchen Fällen keine Aufklärung der Verbraucher durch die Angaben auf der Fertigpackung über ein detektiertes Risiko erfolgt, so können die Verbraucher nicht frei darüber entscheiden, ob sie ein solches Risiko in Kauf nehmen. Insofern ist eine Differenzierung gegenüber dem teils bekannten Verzehr von Rohmilch entgegen den vorgeschriebenen Durcherhitzungshinweisen oder einem überzogenen Konsum von Alkoholika gegeben. Danach kann ein derartiges und dem Verbraucher unbekanntes Risiko mit Bezug auf den Stoffgehalt als eine Kontamination auf andere Weise mit der Folge einer Inakzeptabilität für den menschlichen Verzehr nach Art. 14 Abs. 5 BasisVO eingeordnet werden, weil zumindest einzelne Verbraucher in Kenntnis dieser Umstände dann doch von einem Verzehr absehen würden. Derartige Erwägungen in Form der Kenntnisse und Entscheidungsfreiheit der Verbraucher über die Annahme von Risiken hat der BGH 195611 bei der Prägung des Ekelerregungsgrundsatzes als ergänzenden Maßstab für die Lebensmittelsicherheitsbewertung herangezogen. Folglich kann bei einer noch nicht völlig aufgeklärten Gesundheitsschädlichkeit unter Umständen eine Beanstandung nach Art. 14 Abs. 2 lit. b BasisVO sachgerecht sein. Auf dieser Grundlage können behördliche Untersagungsverfügungen des Inverkehrbringens in Frage kommen. Jedoch ist ein Rückgriff als Quasi-Automatismus nur wegen Beweisschwierigkeiten bzgl. der schwerwiegenderen Norm Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO nicht zulässig.

Letzteres Beispiel zeigt, dass überzogene oder zumindest (noch) unzureichend begründete Verbraucherschutzambitionen auch kontraproduktive Effekte erzeugen können. Dies unterstreicht nochmals die vorstehend erwähnte sensible Schnittstelle der interdisziplinären Bewertung von Risiken durch Sachverständige, Vollzug und ggf. Rechtsprechung.

1

Siehe hierzu Kapitel 3.16 und 3.17.

2

Siehe z. B. § 24 VwVfG im Verwaltungsverfahren, § 86 VwGO bzgl. der Verwaltungsgerichte in den Hauptsacheverfahren und strafprozessual §§ 160 Abs. 2, 163 StPO und § 244 StPO.

3

Vgl. beispielsweise § 26 VwVfG und § 94 ff. StPO.

4

Beschluss BVerfG vom 18.2.2010 – 2 BvR 2502/08.

5

Urteil EuGH vom 17.3.2021, T-719/17, siehe Leitsatz Nr. 1 und Rn. 63.

6

Urteil EuGH vom 27.4.2017, C 672/15.

7

Urteil EuGH vom 30.1.2020, C-524/18; siehe hierzu auch ZLR 2021, 311, mit einer Darstellung der Diskussion über Höchstmengen für Vitamine usw. sowie Verweis auf vorstehende EuGH-Entscheidungen.

8

Beschluss VGH Mannheim vom 17.9.2020 – 9 S 2343/20.

9

https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/01_Lebensmittel/ALS_ALTS/ALS_NEU/EmpfehlungenArt14Abs4Abs178.pdf?__blob=publicationFile&v=1

10

ZLR, 2020, S. 715, vgl. Beschluss VG Stuttgart vom 23.9.2019 – 16 K 2470/19 und im selben Verfahren Beschluss VGH Mannheim vom 12.2.2020 – 9 S 2637/19; in anderen Verfahren Beschlüsse VG Stuttgart vom 3.8.2020 – 16 K 3196/20, 16 K 3087/20 und 3088/20; ebenso Beschluss VG Freiburg vom 30.4.2019 – 4 K 168/19 – und Beschluss VG Stuttgart vom 20.1.2020 – 16 K 8337/19, alle juris.

11

Vgl. Kapitel 1.1 – Lebensmittelsicherheitsbewertungen – Wandel vom nationalen Tatbestand der Ekelerregung zur unionsrechtlichen Kontamination auf andere Weise bei angemessen hohen Risiken.