Markus Geyer*
Der Streit über die ArbeitsvorgangArbeitsvorgänge als Einheiten für die tarifliche Bewertung von Tätigkeiten
Zugleich eine Besprechung der Urteile des BAG v. 9.9.2020 – 4 AZR 195/20 – (ZTR 2021, 71) und – 4 AZR 196/20 –
Nach den Urteilen des 4. Senats des BAG zur Eingruppierung der Beschäftigten in den Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften vom 9.9.2020 haben die Tarifgemeinschaft deutscher Länder und das Land Berlin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben. Sie sehen sich durch die gerichtliche Gleichsetzung von Aufgabengebieten und Arbeitsvorgängen im Tarifsinne in ihren verfassungsmäßigen Rechten als Tarifvertragspartei verletzt. Denn der 4. Senat hat sie mit der Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung hin zum großen einheitlichen Arbeitsvorgang auch im Bereich der Justizverwaltung nunmehr umfassend um jene kleinteiligeren Bewertungseinheiten gebracht, die sie in den 1970er-Jahren – gegen große Zugeständnisse an anderer Stelle – gemeinsam mit den Gewerkschaften vereinbart haben, um die seinerzeit richterrechtsgestaltend eingeführte, vielfach kritisierte „einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“ nachhaltig abzulösen. Tarifwortlaut und eindeutiger historischer Hintergrund belegen den in der Tarifnorm geronnenen gemeinsamen Willen der Tarifvertragsparteien. Ihn durch einen anderen Willen zu ersetzen, wäre allein Sache der Tarifvertragsparteien.
1.Einleitung
Anfang 2018 hatte der 4. Senat des BAG1 für sog. „Geschäftsstellenverwalter2“ bei den (obersten) Gerichten und Staatsanwaltschaften des Bundes3 festgestellt, dass – entgegen der bisherigen Lesart – sämtliche Tätigkeiten als einheitlicher großer Arbeitsvorgang anzusehen sind. Aufgrund dessen erhalten hier nunmehr nahezu alle Tarifbeschäftigten des mittleren Dienstes Entgelt aus der Spitzenentgeltgruppe 9a. Denn nach der Rspr. des BAG genügt es, wenn innerhalb eines (einheitlichen großen) Arbeitsvorgangs die anspruchsvolleren Tätigkeiten (hier konkret „schwierige Tätigkeiten“) in einem gerade noch messbaren Umfang auszuüben sind.4 Beschäftigte, die diese Tätigkeiten in einem solchen nur geringen Umfang auszuüben haben und bisher in den Entgeltgruppen 5 oder 6 eingruppiert waren, konnten sich so über außerordentliche zusätzliche Entgeltsteigerungen5 freuen und sind auf dem Gehaltskonto nunmehr Beschäftigten, die anspruchsvollere Tätigkeiten in großem Umfang auszuüben haben, gleichgestellt. Das BAG hat damit den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durch das Konzept „Gleicher Lohn für alle“ ersetzt.
Vor dem Hintergrund einer drohenden Ausweitung dieser Rechtsprechung auf die Gerichte und Staatsanwaltschaften der Länder forderten diese in der Tarifrunde 2019 eine tarifvertragliche Klarstellung in der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L, mit der die Rechtsprechung wieder an das tatsächlich tarifvertraglich Vereinbarte heranführt werden sollte. Ziel war es, Mehrkosten in tarifrundenrelevanter Höhe zu vermeiden und den betrieblichen Frieden in den Geschäftsstellen und Serviceeinheiten zu sichern6. Vor allem ging es der Arbeitgeberseite aber darum, die sich durch die gesamte Entgeltordnung zum TV-L ziehenden, abgestuft differenzierenden Eingruppierungsregelungen7 wider die schleichende Schleifung durch die Gerichte praktisch wirksam zu erhalten bzw. wieder praktisch wirksam werden zu lassen.8
In der Gesamteinigung vom 2.3.2019 vereinbarten die Tarifvertragsparteien dann eine qualifizierte Gesprächszusage zu § 12 TV-L.9 Für die verabredeten Gespräche schrieben sie das gemeinsame Ziel fest, die in der gesamten Entgeltordnung zum TV-L tarifvertraglich vereinbarte Differenzierung der Eingruppierung anhand des zeitlichen Umfangs, in dem eine bestimmte Anforderung (z. B. Schwierigkeit) erfüllt sein muss, sicherzustellen.10
Mit den Mitte Januar 2021 veröffentlichten, teilweise bereits für den Gabentisch 2020 erwarteten Urteilen vom 9.9.202011 bekräftigte das BAG ausdrücklich die Linie seiner Rechtsprechung nunmehr im Bereich der Länder für die Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften.12 In der bereichsübergreifend auf das grundsätzliche Verständnis von § 12 TV-L wie § 12 (Bund/VKA) TVöD ausgerichteten Begründung ersetzte es als Quasi-Tarifvertragspartei die tarifvertraglich vereinbarte differenzierende Bewertungseinheit des Arbeitsvorgangs expressis verbis durch „die Bearbeitung eines Aufgabengebietes“. Insbesondere stünde der Sichtweise des 4. Senats kein anderer Wille der Tarifvertragsparteien entgegen; ein solcher hätte in den tariflichen Eingruppierungsbestimmungen nicht den erforderlichen Niederschlag gefunden.
Zwei Generationen nach dem großen Kompromiss von 1975, in dem sich die Tarifvertragsparteien in den „Tarifverhandlungen über die Grundsätze der Eingruppierung“ darauf verständigt hatten, (wie von den Arbeitgebern gefordert) die bisherige Rechtsprechung des BAG zur einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit und dem hierin hinreichenden Hauch heraushebender Anforderungen mit der neu eingeführten Bewertungseinheit des Arbeitsvorgangs abzulösen und (wie von den Gewerkschaften gefordert) im Gegenzug erhebliche Verbesserungen bei der Eingruppierung vorzunehmen, hat der 4. Senat wider den Wortlaut und den seinerzeitigen Willen der Tarifvertragsparteien im Ergebnis seine frühere Rechtsprechung zur einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit13 sukzessiv wiederhergestellt. Damit hat er den Gewerkschaften unzulässigerweise nachträglich Verhandlungshilfe geleistet und Tarifrecht auf kaltem Wege durch Richterrecht ersetzt14, während die Gewerkschaften nach wie vor von den vormals vereinbarten Verbesserungen profitieren.
Das Land Berlin und die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) haben daraufhin Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht15 mit der Begründung erhoben, die Rechtsprechung des BAG werde dem 1975 „geronnenen Willen“ der Tarifvertragsparteien nicht mehr gerecht und verstößt damit gegen die verfassungsrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie.16 Die Gewerkschaftsseite verweigert hingegen ob des ihr in den Schoß gefallenen Flaschengeistes17 jede Klarstellung in § 12 TV-L.18
Gleichzeitig werden aus der Justiz inzwischen Vorschläge nach einer Insellösung laut, mit der für die Geschäftsstellenverwalter sowie für die Beschäftigten in den Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften eine differenzierende Eingruppierung unter Zugrundlegung der aktuellen Rechtsprechung des BAG herbeigeführt werden soll.19 Die Personalvertretungen in der Justiz fordern indessen von den Arbeitgebern die „Einheitseingruppierung“ entsprechend der Rechtsprechung des BAG.
Der nachstehende Beitrag will nicht nur einen Einblick in das bizarre Panoptikum des mehr oder weniger freien Spiels der (Tarif-)Kräfte im öffentlichen Dienst geben, sondern zugleich eine Lanze brechen für die verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie, die seit mehr als 70 Jahren die Grundlage für die überaus erfolgreiche Praxis ist, im öffentlichen Dienst neben Beamten auch Tarifbeschäftigte einzusetzen. Sie gewährleistet, dass die Arbeitsbedingungen der Tarifbeschäftigten nicht einseitig vom Gesetzgeber vorgegeben, sondern gemeinsam von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt werden. Dies sichert nicht zuletzt auch den unmittelbaren Einfluss der Arbeitnehmerseite auf die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst.
2.Das streitbefangene Tarifrecht
Die streitbefangenen Tarifregelungen – § 12 TV-L als die grundlegende Vorschrift über die Eingruppierung sowie die Tätigkeitsmerkmale für Geschäftsstellenverwalter und für Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten oder Staatsanwaltschaften – sind zwar erst im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der Entgeltordnung zum TV-L m. W. v. 1.1.2012 in Kraft getreten.20 Für die Auslegung sind jedoch auch der bis dahin geltende § 22 BAT/BAT-O und die Tätigkeitsmerkmale der früheren Anlage 1a zum BAT/BAT-O in den Blick zu nehmen, deren Regelungsgehalte in § 12 TV-L und in der Entgeltordnung zum TV-L fortleben.
Mit der Einführung des TV-L am 1.11.2006 waren zwar die Manteltarifverträge für die Angestellten (BAT bzw. BAT-O) für den Bereich der TdL abgelöst worden; dies galt jedoch vorerst nicht für § 22 BAT/BAT-O und die Vergütungsordnung in den Anlagen 1a und 1b zum BAT/BAT-O. Seither war bei Ein- bzw. Umgruppierungen zunächst die – nach dem fortgeltenden Recht – maßgebliche Vergütungsgruppe zu bestimmen; anschließend war diese mittels der Zuordnungstabelle in Anlage 4 TVÜ-Länder einer der 15 Entgeltgruppen des TV-L zuzuordnen. Nach erfolglosen Versuchen einer Neukonzeption des Eingruppierungsrechts verständigten sich die Tarifvertragsparteien 2009 dann darauf, eine Entgeltordnung zum TV-L auf der Grundlage des redaktionell überarbeiteten bisherigen Eingruppierungsrechts zu vereinbaren.21 Entsprechend dieser Grundeinigung wurden § 22 BAT/BAT-O in § 12 TV-L in redaktionell überarbeiteter Form fortgeschrieben22 sowie die Tätigkeitsmerkmale für Geschäftsstellenverwalter und Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften aus Teil II Abschn. T Unterabschn. I der Anlage 1a zum BAT nach Teil II Abschn. 12 Unterabschn. 1 der Entgeltordnung zum TV-L überführt und zum 1.1.2012 in Kraft gesetzt.23
§ 22 BAT in seiner zuletzt geltenden Fassung war mit dem 37. Änd.-TV zum BAT v. 17.3.197524 vereinbart und m. W. v. 1.1.1975 in Kraft gesetzt worden. Die Tarifvertragsparteien wollten damit die bis dato geltende grundsätzliche Eingruppierungsvorschrift und vor allem das, was die Rechtsprechung aus ihr gemacht hatte, grundlegend umgestalten. Sie legten hierzu fest, dass die gesamte auszuübende Tätigkeit für die Eingruppierung maßgebend sein sollte, und dass die in den Tätigkeitsmerkmalen beschriebene Tätigkeit für die Eingruppierung grundsätzlich mindestens zur Hälfte ausgeübt werden musste. Gegenstand der Bewertung sollte – das war Neuland25 – jeder einzelne „Arbeitsvorgang“ innerhalb der gesamten auszuübenden Tätigkeit sein. Damit sollten insb. die vor dem 1.1.1975 von der Rechtsprechung am Tarifwortlaut vorbei eingeführte „einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit” und das daran geknüpfte Dictum, dass es zur Erfüllung heraushebender Anforderungen ausreicht, wenn sie in einem „nicht nur unerheblichen zeitlichen Umfang“ erfüllt sind26, gegenstandslos gemacht werden.27
Die Tätigkeitsmerkmale für Beschäftigte in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften wurden von Bund und Ländern erstmals durch den Tarifvertrag zur Änderung der Anlage 1a zum BAT (Angestellte in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften) vom 29.11.200028 vereinbart. Hintergrund war die ganz erheblich fortgeschrittene und in einigen Ländern bereits weitgehend flächendeckend umgesetzte Einrichtung von Serviceeinheiten bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften. Wesentliches Merkmal der Serviceeinheiten war aus Sicht der Fachseite die „ganzheitliche“ Vorgangsbearbeitung.29 Dazu war die historisch gewachsene Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Funktionsträgern aufgehoben worden. Geschäftsstelle und Kanzlei waren zu einem Arbeitsverbund zusammengefasst worden, in dem die Mitarbeiter neben den Geschäftsstellen- und sonstigen Büroaufgaben (ganzheitlich) auch das anfallende Schreibwerk erledigen und den Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern räumlich und fachlich zugeordnet sind.
Bis dahin waren ausschließlich die (ebenfalls in Teil II Abschn. 12 Unterabschn. 1 der Entgeltordnung zum TV-L überführten) Tätigkeitsmerkmale für Protokollführer sowie für Geschäftsstellenverwalter in Teil II Abschn. T Unterabschn. I der Anlage 1a zum BAT ausgebracht.
3.Der Dissens
Die Tätigkeitsmerkmale in der Entgeltordnung zum TV-L30 sprechen an keiner Stelle von Arbeitsvorgängen, sondern traditionell von Tätigkeiten. § 12 TV-L31 knüpft jedoch (wie zuvor § 22 BAT/BAT-O) als Grundnorm der Eingruppierung an „Arbeitsvorgänge“ (im Plural) an, die es tariflich zu bewerten gilt. Nach § 12 Abs. 1 Satz 4 TV-L32 entspricht die gesamte auszuübende Tätigkeit (den Tätigkeitsmerkmalen) einer Entgeltgruppe, wenn zeitlich mindestens zur Hälfte Arbeitsvorgänge anfallen, die für sich genommen die Anforderungen eines Tätigkeitsmerkmals oder mehrerer Tätigkeitsmerkmale dieser Entgeltgruppe erfüllen. Den im Plural verwendeten Begriff „Arbeitsvorgänge“ definiert mit Tarifnormcharakter Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L.33 Danach sind dies „Arbeitsleistungen (einschließlich Zusammenhangsarbeiten), die, bezogen auf den Aufgabenkreis der/des Beschäftigten, zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen (zum Beispiel unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorgangs, eines Widerspruchs oder eines Antrags, Betreuung bzw. Pflege einer Person oder Personengruppe, Fertigung einer Bauzeichnung, Erstellung eines EKG, Durchführung einer Unterhaltungs- bzw. Instandsetzungsarbeit). Jeder einzelne Arbeitsvorgang ist als solcher zu bewerten und darf dabei hinsichtlich der Anforderungen zeitlich nicht aufgespalten werden.“
Während Einigkeit besteht, dass – wie von Satz 2 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L gefordert – eine „Atomisierung“ der Tätigkeiten untersagt ist, gehen die Arbeitgeber entsprechend dem Vereinbarten davon aus, dass der kleinste bei natürlicher und vernünftiger Betrachtungsweise abgrenzbare Teil der gesamten Tätigkeit des Beschäftigten für die tarifrechtliche Bewertung der Tätigkeit maßgeblich ist,34 also eine „Molekularisierung“35 der Gesamttätigkeit vorzunehmen ist und jeweils ein konkreter, mit einem konkreten Arbeitsergebnis endender Arbeitsanfall einen Arbeitsvorgang bildet. Anspruchsvollere Tätigkeiten innerhalb des abgrenzbaren Arbeitsvorgangs „strahlen“ daher (nur) auf den jeweiligen Arbeitsvorgang aus. Enthalten z. B. von 100 (gleich langen) Arbeitsanfällen, die ein Beschäftigter durchschnittlich pro Woche erledigt, neun anspruchsvollere (z. B. schwierige) Tätigkeiten in einem rechtserheblichen Umfang, erfordern (zeitlich) insgesamt 9 % der Arbeitsvorgänge schwierige Tätigkeiten im Tarifsinne, und (zeitlich) 91 % der Arbeitsvorgänge (91 von 100) entsprechen der Normaltätigkeit. Der Beschäftigte ist dann in der Grundentgeltgruppe und nicht etwa in einer Heraushebungsentgeltgruppe eingruppiert, die zeitlich mindestens zu einem Fünftel, einem Drittel oder mindestens zur Hälfte schwierige Tätigkeiten verlangt:36
Enthalten von 100 Arbeitsanfällen, die ein Beschäftigter durchschnittlich pro Woche erledigt, 35 anspruchsvollere (z. B. schwierige) Tätigkeiten in einem rechtserheblichen Umfang, erfordern (zeitlich) insgesamt 35 % der Arbeitsvorgänge schwierige Tätigkeiten im Tarifsinne, und (zeitlich) 65 % der Arbeitsvorgänge entsprechen der Normaltätigkeit. Der Beschäftigte ist dann in der Heraushebungsentgeltgruppe eingruppiert, die zeitlich mindestens zu einem Drittel schwierige Tätigkeiten verlangt:
Der 4. Senat des BAG37 und die Gewerkschaften bestehen beim Begriff des Arbeitsvorgangs hingegen inzwischen nahezu umfassend für alle Berufsgruppen auf einer „Verklumpung38“ sämtlicher Tätigkeiten39 und sehen regelmäßig die gesamte Tätigkeit eines Beschäftigten als einen einzigen (einheitlich zu bewertenden) Arbeitsvorgang an, der mit der Übertragung der Tätigkeiten beginnt und mit dem Eintritt in den Ruhestand oder der Übertragung anderer Tätigkeiten endet.40 Anspruchsvollere Tätigkeiten innerhalb des so titulierten Arbeitsvorgangs „strahlen“ daher auf die Gesamttätigkeit aus. Enthalten nach dieser Lesart innerhalb des einheitlichen großen Arbeitsvorgangs 35 von 100 Arbeitsanfällen auch anspruchsvollere Tätigkeiten, sollen gleichwohl sämtliche Tätigkeiten als schwierig zu bewerten sein. Der Beschäftigte ist immer in der (Spitzen-)Heraushebungsentgeltgruppe eingruppiert, die zeitlich mindestens zur Hälfte schwierige Tätigkeiten verlangt:
Damit laufen sog. Bruchteilsmerkmale41 leer, die in einer abgestuften Struktur unterhalb der Spitzenentgeltgruppe vereinbart sind. Mehr noch: Die Eingruppierungssystematik wird auf den Kopf gestellt, denn auch Beschäftigte, die im Wesentlichen „Normaltätigkeiten“ auszuüben haben, sind der Spitzenentgeltgruppe zuzuordnen:42
4.Die Wurzel des Dissenses
Wer das Beharren der Arbeitgeber auf ihrer Ansicht sowie das inzwischen harsche Ablehnen der Rechtsprechung des 4. Senats des BAG verstehen will, muss in die Vergangenheit blicken. In die 1970er-Jahre, als die Tarifvertragsparteien des BAT in § 22 erstmals die Grundregelung der Eingruppierung vereinbarten, wie sie heute (in redaktionell überarbeiteter Form43) in § 12 TV-L noch vorzufinden ist.
Mag der 4. Senat in seinen Urt. v. 9.9.202044 „zur rechtsdogmatischen Untermauerung“ seiner Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs des Arbeitsvorgangs auch „einen weiten Bogen bis zum Inkrafttreten der Neufassung des § 22 BAT im Jahr 1975 zurück“ schlagen,45 reicht dieser doch nicht weit genug. § 22 BAT, mit dem erstmals der Begriff des Arbeitsvorgangs als grundlegendes Anknüpfungskriterium für die finanzielle Bewertung von Tätigkeiten im öffentlichen Dienst geprägt wurde, ist mit dem 37. Änd.-TV zum BAT vom 17.3.197546 neu vereinbart worden und war Teil eines klassischen Tarifkompromisses. Für das Verständnis (von § 22 BAT und nunmehr) von § 12 TV-L ist es unabdingbar, dessen Hintergründe in den Blick zu nehmen.47
4.1Die Kündigung des BAT zum 31.12.1969 und seine (unvollständige) Wiederinkraftsetzung zum 1.11.1973
Die (Neu-)Vereinbarung von § 22 durch den 37. Änd.-TV zum BAT nahm ihren Ausgang in der Kündigung des BAT seitens der Gewerkschaften48 zum 31.12.1969.49 Nach einigen Jahren der Erprobung des Tarifvertrags hatten sie nunmehr die Absicht, die Tarifregelungen in erheblichem Umfang zu ändern und zu ergänzen.50
Da eine Revision in einem einzigen Änderungstarifvertrag nicht umsetzbar erschien,51 vereinbarten die Tarifvertragsparteien eine Vielzahl von Änderungstarifverträgen zur Änderung in sich geschlossener Abschnitte des BAT52 sowie zur Änderung des Eingruppierungsrechts in der Anlage 1a zum BAT,53 während sich der BAT insgesamt im gekündigten Zustand befand. Die eigentlichen „Manteltarifverhandlungen“ nahmen die Tarifvertragsparteien erst im Frühjahr 1972 auf.
Währenddessen stellte das BAG54 im Februar 1973 fest, dass die Rechtsnormen des BAT nach dessen Kündigung gemäß § 4 Abs. 5 TVG nur nachwirken und im Nachwirkungszustand nicht mit tariflicher Wirkung geändert werden können. Demnach waren alle Änderungstarifverträge, die nach dem Wirksamwerden der Kündigung des BAT zum 31.12.1969 vereinbart worden waren,55 unwirksam.
Daraufhin traten die Tarifvertragsparteien in Verhandlungen über eine Wiederinkraftsetzung des BAT ein, die mit Verhandlungen zu „Grundsatzfragen über die Eingruppierung der Angestellten“ verbunden wurden. Die Gewerkschaften forderten in diesem Zusammenhang die Anhebung sämtlicher nach der Kündigung des BAT noch nicht verbesserten Tätigkeitsmerkmale um eine Vergütungsgruppe. Als Gegenforderung verlangten die Arbeitgeber (aus noch darzulegenden Gründen56) eine Neuregelung von § 22 BAT; hierzu legten sie in den Verhandlungen am 8./9.5.1973 einen ersten Vorschlag vor, der im Fortsetzungstermin am 13./14.6.1973 konkretisiert wurde und die Bewertungseinheit des Arbeitsvorgangs noch nicht kannte.57
In den Verhandlungen am 13./14.6.1973 äußerten die Gewerkschaften dann, dass eine Einigung über ihre Forderungen zur Eingruppierungsstruktur vorrangiger sei als eine Einigung über die Wiederinkraftsetzung des BAT; die Arbeitgeber unterbreiteten daraufhin ein Angebot58 unter der Voraussetzung, dass Einvernehmen über den Vorschlag zu § 22 BAT erzielt wird. Mit diesem waren die Gewerkschaften jedoch nicht einverstanden. Die Vertreter der ÖTV59 betrachteten dieses aber als ersten Verhandlungseinstieg und forderten, bei der nächsten Verhandlung einen Gesamtvorschlag vorzulegen, der insbesondere auch die unteren Vergütungsgruppen (X bis VIII) erfasst. Die Vertreter der DAG60 verwiesen darauf, dass das Angebot auch nicht in etwa der Forderung der DAG entspreche, die ersten Fallgruppen um eine Vergütungsgruppe höherzuschreiben; das Angebot sei sorgfältig geprüft und insbesondere auch in Verbindung mit der vorgeschlagenen – nach Auffassung der DAG materiell unzureichenden – Neufassung des § 22 BAT gesehen worden; es werde ein weitergehendes Angebot erwartet.
Am 26.6.1973 befasste sich die Große Tarifkommission der ÖTV mit dem Angebot der Arbeitgeber und hielt eine Wiederinkraftsetzung des BAT für dringend erforderlich. In ihrem Beschluss lehnte sie die von Bund, Ländern und Gemeinden vorgeschlagene Neufassung des § 22 BAT zwar ab und missbilligte, dass die Arbeitgeber der Wiederinkraftsetzung des BAT nur unter der Voraussetzung zustimmen wollten, dass die Eingruppierungsgrundsätze (§ 22) im Sinne des Arbeitgeberstandpunktes geändert werden. Um ein Scheitern der Tarifverhandlungen wegen der unnachgiebigen Haltung der Arbeitgeber jedoch möglichst zu vermeiden, empfahl die Große Tarifkommission, die bestehenden Gegensätze über den Inhalt des § 22 durch verbesserte Tätigkeitsmerkmale zu entschärfen. Sie forderte ein Gesamtangebot der Arbeitgeber auf der Grundlage der ÖTV-Forderungen. Insbesondere seien u. a. alle Tätigkeitsmerkmale – insb. auch der unteren Vergütungsgruppen – prinzipiell um eine Vergütungsgruppe zu verbessern und der sog. Bewährungsaufstieg durch unmittelbare Eingruppierungsansprüche abzulösen.
Daraufhin verständigten sich die Tarifvertragsparteien in weiteren Manteltarifverhandlungen am 20./21. und 25./26.9. und am 2./3.10.1974 darauf, die Frage der Eingruppierung auszuklammern und den BAT zum 1.11.1973 wieder in Kraft zu setzen,61 um das Tarifrecht des öffentlichen Dienstes wieder mit tariflicher Normwirkung auszustatten.62 Ausgenommen hiervon blieben jedoch die Grundregelungen zur Eingruppierung in §§ 22 bis 24 BAT sowie die aus der Anlage 1a und der Anlage 1b zum BAT bestehende Vergütungsordnung mit den Regelungen über die Eingruppierung der verschiedenen Berufe im öffentlichen Dienst. Hierzu stellte das BMI in seinem Einführungserlass63 Folgendes fest:
„Wegen grundsätzlicher Meinungsverschiedenheiten der Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Eingruppierungsgrundsätze bleiben die §§ 22 bis 24, die Anlagen 1a und 1b von der Wiederinkraftsetzung ausgenommen. Sie sind mithin lediglich nachwirkendes Recht für die seit dem 31. Dezember 1969 ununterbrochen im Arbeitsverhältnis stehenden Angestellten und auch das nur, soweit das am 31. Dezember 1969 geltende Recht beansprucht wird. Gleichwohl bitte ich, auch weiterhin nach den genannten Vorschriften sowie nach den jeweils durch Weiteranwendungsverträge vereinbarten einschlägigen Änderungen und Ergänzungen zu verfahren.“
Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Frage einer Neuregelung der Grundnorm für die Eingruppierung höchst umstritten war und der Arbeitgebervorschlag für die Gewerkschaften ein substanzielles Nachgeben bedeutet hätte; hierzu waren sie nur bereit, wenn die Arbeitgeber im Gegenzug an anderer Stelle substanziell nachgaben.
4.2Die Auslegung von § 22 BAT a. F. durch den 4. Senat des BAG
Die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten der Tarifvertragsparteien, die zur Herausnahme der §§ 22 bis 24 BAT sowie der Anlagen 1a und 1b zum BAT aus dem Wiederinkraftsetzungstarifvertrag geführt hatten, hatten ihren Grund in der seinerzeitigen Rechtsprechung des 4. Senats des BAG zur Auslegung von § 22 BAT.64 Ihn hatten die Tarifvertragsparteien des BAT vom 23.2.1961 als Grundnorm für die Eingruppierung (bei der Einstellung) vereinbart und damit unverändert fortgeschrieben, was nach § 3 Abs. 2 TO.A65 bzw. seit dessen Aufhebung durch die Tarifverträge vom 21.11.50 (Bund) und vom 28.2.1951 (TdL) aufgrund der Rechtsprechung des BAG bereits gegolten hatte.
Bereits frühzeitig ging das BAG bei § 22 BAT a. F. von einer unvollständigen Regelung aus. Es sei zu prüfen, ob (1.) – tariflich in § 22 geregelt – eine überwiegend auszuübende Tätigkeit vorliegt, oder – tariflich ungeregelt – (2.) eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit oder (3.) mehrere auszuübende Tätigkeiten, von denen (für sich allein genommen) keine überwiegt.66
Die Differenzierung wollte das BAG nach den Gesamtumständen des Einzelfalls vorgenommen wissen. Dabei sollten als Kriterien für eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit z. B. entsprechende gesetzliche Bestimmungen, Verwaltungsvorschriften, Geschäftsverteilungspläne, aber auch die Verkehrsanschauung innerhalb einer Behörde, die behördliche Übung sowie der enge Zusammenhang der übertragenen Aufgaben in Betracht kommen.67 An anderer Stelle begründete das BAG die einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit mit der behördlichen Organisation und dem inneren Zusammenhang sämtlicher zu erledigender Aufgaben.68 So bejahte es mehrfach eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit mit der Begründung, dass entsprechend der innerbetrieblichen Organisation die Tätigkeit allein auszuüben war;69 die theoretische Abgrenzbarkeit sei unerheblich.70 Aus „Rechtsgründen“ sollte hingegen eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit ausscheiden, wenn für die Tätigkeiten (mehr oder weniger zufällig) unterschiedliche Tätigkeitsmale vereinbart waren71; hier sollte dann nur die überwiegend auszuübende Tätigkeit eingruppierungsrelevant sein.72 Überwog keine Tätigkeit, war jede Teiltätigkeit daraufhin zu überprüfen, ob sie die Tätigkeitsmerkmale der einer Vergütungsgruppe erfüllte oder nicht.73
Bedenken gegen die Auffassung des BAG wurden frühzeitig laut.74 Zur Fallgestaltung 1 („eine überwiegende Tätigkeit“) wiesen die Kritiker v. a. darauf hin, dass die Rechtsprechung bei aufeinander aufbauenden Tätigkeitsmerkmalen (wie im allgemeinen Verwaltungsdienst in Teil I der Anlage 1 a zum BAT75) zu Ungerechtigkeiten führt.76 Zur Fallgestaltung 2 („einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“) kritisierten sie das Zusammenfassen von Einzeltätigkeiten unterschiedlichen Wertes.77
Für die Arbeitgeberseite schlechthin nicht mehr tragbar78 wurde die Auslegung von § 22 BAT a. F. durch den 4. Senat des BAG jedoch ab 1971, als das Gericht begann, seine Rechtsprechung für die Fallgestaltung 2 („einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“) grundlegend zu ändern.79 Nunmehr sollten bei einer einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit „die jeweiligen qualifizierenden tariflichen Tätigkeitsmerkmale nicht ihrerseits überwiegend erfüllt werden müssen“, wenn nicht in der Eingruppierungsregelung selbst ein Überwiegen gefordert ist.80 Es genüge, wenn der Angestellte die entsprechenden Arbeiten überhaupt in nicht unerheblichem Umfang zu erledigen habe,81 was bei 5 % schon zu bejahen sei.82 Bis dahin hatte das BAG auch dann, wenn das Tätigkeitsmerkmal keine eigene Mindestzeitvorgabe enthielt, geprüft, ob die tariflichen Anforderungen überwiegend erfüllt waren.83
Die in der Literatur geäußerte Kritik84 an dieser Rechtsprechung hielt der 4. Senat nicht für überzeugend85 und setzte diese unbeirrt fort.86 Damit kam ein unverändertes Wiederinkraftsetzen des § 22 BAT a. F. für die Arbeitgeberseite nicht mehr infrage.87 Es galt mittels einer tariflichen Neuregelung von § 22 BAT die Rechtsprechung des BAG zu „neutralisieren“.88
4.3Die (Neu-)Vereinbarung von § 22 BAT im 37. Änd.-TV zum BAT vom 17.3.1975
Nach dem Wiederinkraftsetzen des BAT setzten die Tarifvertragsparteien die Mantelverhandlungen am 11./12.12.1973 fort. Parallel dazu hatten sie bereits am 6./7.11.1973 die Tarifverhandlungen über Grundsatzfragen der Eingruppierung aufgenommen. Die Gewerkschaften forderten hier u. a., die Tätigkeitsmerkmale der Anlage 1a zum BAT, soweit sie nicht kürzlich neu vereinbart worden waren, (siehe Fn. 53) um mindestens eine Vergütungsgruppe anzuheben. Die Arbeitgeber forderten weiterhin die Neuregelung von § 22 BAT. Das Angebot der Arbeitgeberseite, das gegenüber dem Angebot vom 13./14.6.1973 in den unteren Vergütungsgruppen weiter verbessert worden war, hielten die Gewerkschaften nicht für einigungsfähig.
Wie in der Erklärung der ÖTV in den Verhandlungen am 6./7.11.1973 angekündigt, befasste sich am 28.11.1973 die Große Tarifkommission der ÖTV mit dem Verhandlungsstand. In ihrem Beschluss sah sie zwar ein Eingehen der Arbeitgeber auf die Eingruppierungsforderungen der ÖTV, die Ergebnisse seien aber insgesamt unzureichend. Sie sei nicht bereit, eine Neufassung der §§ 22, 23 BAT zu erwägen, bevor die Reform der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale mit Ergebnissen beendet ist, die einen Kompromiss rechtfertigten. So müsse der Bewährungsaufstieg durch die Schaffung echter Eingruppierungsmerkmale ersetzt werden, es seien weitere Zeitaufstiege dann zu schaffen, wenn nicht andere ausreichende Verbesserungen des entsprechenden Tätigkeitsmerkmals erfolgen würden; zudem sei das Prinzip des „überwiegend“ mehr als bisher durch das Prinzip des „in nicht unerheblichem Umfang“ zu ersetzen und die Verhandlungen über allgemeine Tätigkeitsmerkmale durch Verhandlungen über bestimmte spezielle Tätigkeitsmerkmale zu flankieren, für die ein dringendes Regelungsbedürfnis bestehe. Damit trieb sie den Preis für eine nachhaltige Ablösung der Rechtsprechung des BAG zur „einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit“ weiter in die Höhe.
Daraufhin kam die Mitgliederversammlung der TdL in ihrer 7./73 Sitzung (TOP 4) am 13.12.1973 übereinstimmend zu der Auffassung, dass die Frage der Tarifverhandlungen über die Eingruppierung der Angestellten dem Grundsatz nach in den Lohn- und Vergütungstarifverhandlungen angesprochen werden müsse.
In den am 26./27.6.1974 fortgesetzten Tarifverhandlungen legten die Arbeitgeber dann einen neuen Entwurf zu § 22 BAT vor, der erstmals die Bewertungseinheit des Arbeitsvorgangs enthielt89; die Gewerkschaften stellten ihre Erklärungen hierzu zurück. In seinem Bericht über den Verhandlungstermin stellte der Geschäftsführer der TdL fest:
„Bei diesen Verhandlungen wurde … klar, dass die Gewerkschaft ÖTV noch immer davon ausgeht, dass jeder Angestellte und jeder Arbeiter um mindestens eine Vergütungsgruppe angehoben werden muss. Zwar leugnen die Verhandlungsführer auf direkte Frage ein solches Bestreben, die entwickelten Vorstellungen sprechen jedoch für sich.“
In den am 16./17.7.1974 fortgesetzten Tarifverhandlungen erklärten die Arbeitgeber dann, dass weitergehende Zugeständnisse als in dem Angebot vom 26./27.6.1974 nur in Aussicht gestellt werden könnten, wenn ÖTV und DAG den durchgehenden reinen Zeitaufstieg als Grundsatzforderung nicht weiterverfolgen; außerdem legten sie eine Ergänzung ihres Angebotes zur Neufassung der §§ 22–24 BAT vor. In seinem Bericht über den Verhandlungstermin stellte der stellvertretende Geschäftsführer der TdL fest:
„Die Verhandlungen sind in erster Linie über die Neufassung der §§ 22 bis 24 BAT geführt worden. Es besteht die Aussicht, dass hierüber – vorausgesetzt man einigt sich über die Tätigkeitsmerkmale der ersten Fallgruppen des Teils der Anlage 1a – auf der Grundlage des Arbeitgebervorschlages ein Einvernehmen erzielt werden kann.“
In den am 30./31.10.1974 fortgesetzten Tarifverhandlungen unterbreiteten die Arbeitgeber schließlich ein Schlussangebot „unter der Voraussetzung, dass hiermit Einvernehmen über den gesamten Verhandlungsgegenstand erzielt wird“.
In den am 12./13.11.1974 fortgesetzten Tarifverhandlungen erzielten die Tarifvertragsparteien dann Einvernehmen über die neuen Eingruppierungsgrundsätze der §§ 22 bis 24 BAT, über eine stärkere Differenzierung in den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen der jeweils ersten Fallgruppen des Teils I der Anlage 1a zum BAT,90 über die VergGrn. Ib bis I BAT sowie über die Einfügung von Tätigkeitsmerkmalen für Registraturleiter in die Vergütungsgruppe Vb BAT. Ferner wurden in den VergGrn. IXb und IXa BAT besondere Bewährungsaufstiegsmerkmale eingefügt und die Anfangs- und Endgrundvergütungen der VergGrn. X bis IXa BAT für Bund und TdL auf das VKA-Niveau angehoben. Schließlich sollten sämtliche (28) Tarifverträge zur Änderung der Anlage 1a zum BAT, die seit der Kündigung des BAT zum 31.12.1969 geschlossen worden waren,91 in Kraft gesetzt werden.
Am 17./18.12.1974 wurde dann der endgültige Text des § 22 BAT abgestimmt,92 der dann im 37. Änd.-TV zum BAT v. 17.3.197593 vereinbart und m. W. v. 1.1.1975 in Kraft gesetzt wurde.
Die mit der Tarifeinigung verbundenen erheblichen Mehrkosten machten die Arbeitgeber dann zum Gegenstand der Tarifrunde, die Anfang 1975 begonnenen hatte. Nach der dritten Verhandlungsrunde am 28.1.1975 betonte der Verhandlungsführer Bundesinnenminister Maihofer im Bundeskabinett, dass der Arbeitnehmerseite klar sei, dass das Ergebnis der Eingruppierungsverhandlungen im Gesamtrahmen des Abschlusses berücksichtigt werden müsse.94 Der dann am 17.2.1975 erzielte Lohnrundenabschluss95 beinhaltete auch ein Inkrafttreten der Eingruppierungsregelungen zum 1.12.1975.96
4.4Die Äußerungen von Beteiligten im Anschluss an die Tarifeinigung vom 11./12.11.1974
Dass mit dem Tarifkompromiss vom 11./12.11.1974 grundlegend mit der bisherigen Rechtsprechung des BAG zur „einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit“ gebrochen werden sollte, belegen v. a. Äußerungen von Beteiligten.
In den abgestimmten Durchführungshinweisen von Bund, TdL und VKA vom 27.3.197597 beschreiben die Arbeitgeber das gemeinsame Verständnis von der nunmehr kleinteiligeren Bewertungseinheit des „Arbeitsvorgangs“ wie folgt:
„3.1 Die Tätigkeit jedes Angestellten setzt sich aus Arbeitsvorgängen zusammen. Die einzelnen Arbeitsvorgänge sind die Elemente für die Bewertung der Tätigkeit. Für jeden Arbeitsvorgang ist das Tätigkeitsmerkmal zu ermitteln, dessen Anforderungen er erfüllt. Die für die einzelnen Arbeitsvorgänge, die derselben Vergütungsgruppe zuzuordnen sind, normalerweise aufzuwendenden Zeiten sind zusammenzurechnen.“ Ergibt sich, dass zeitlich mindestens die Hälfte oder das im Tätigkeitsmerkmal festgelegte sonstige Maß erreicht ist, folgt daraus, dass die gesamte Tätigkeit den Tätigkeitsmerkmalen dieser Vergütungsgruppe entspricht und der Angestellte in dieser Vergütungsgruppe eingruppiert ist.
Beispiel 1:
Von den im Monatsdurchschnitt insgesamt zu erledigenden Arbeitsvorgängen eines Angestellten sind der Anzahl nach 60 v. H. schwierigere Tätigkeiten im Sinne der VergGr. VIII Fallgruppe 1 des Teils I der Anlage 1a zum BAT; sie nehmen 35 v. H. der gesamten Arbeitszeit in Anspruch, der Anzahl nach 40 v. H. solche Arbeitsvorgänge, die gründliche Fachkenntnisse i. S. d. VergGr. VII Fallgruppe 1 a.a.O. erfordern; sie nehmen 65 v. H. der gesamten Arbeitszeit in Anspruch.
Der Angestellte ist in der Vergütungsgruppe VII eingruppiert.
…
3.2 Was ein Arbeitsvorgang ist, wird in der Protokollnotiz Nr. 1 näher erläutert. Die Tarifvertragsparteien haben mit dem Begriff des Arbeitsvorganges das Ziel verfolgt, die Bewertung der Tätigkeit anhand des kleinsten bei natürlicher und vernünftiger Betrachtungsweise abgrenzbaren Teiles der gesamten Tätigkeit aufzubauen. Die Abgrenzung ergibt sich aus dem jeweiligen konkreten Arbeitsergebnis, zu dem der Arbeitsvorgang führt. Damit ist gewährleistet, dass z. B. die sog. Zusammenhangsarbeiten, die als ein- und untergeordnete Teile einer Arbeitsleistung anzusehen sind, nicht gesondert gewertet werden dürfen (z. B. das für die Bearbeitung eines Aktenvorgangs erforderliche Heraussuchen eines Aktenstückes oder die Beiziehung anderer Vorgänge).
Das für die Abgrenzung des Arbeitsvorgangs maßgebende Arbeitsergebnis ist auf den konkreten Aufgabenkreis des Angestellten bezogen. Bei arbeitsteiliger Erledigung der Aufgaben ist z. B. nicht die Erstellung eines Bauplanes als Arbeitsvorgang anzusehen, sondern der konkrete Beitrag des Angestellten hierzu, soweit dieser Beitrag nicht seinerseits aus mehreren Arbeitsvorgängen besteht.
3.3 Bestimmte Anforderungen, die in Tätigkeitsmerkmalen gestellt werden, können ihrer Natur nach vielfach nicht in einem einzigen Arbeitsvorgang erfüllt sein. So wird beispielsweise die Anforderung ‚vielseitige Fachkenntnisse‘ regelmäßig erst in der Bearbeitung mehrerer Arbeitsvorgänge auf verschiedenartigen Fach- und Rechtsgebieten erfüllt werden können. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, ist in § 22 Abs. 2 Unterabs. 2 Satz 2 zugelassen, dass für die Prüfung, ob derartige Anforderungen erfüllt sind, entsprechende Arbeitsvorgänge insoweit zusammen betrachtet werden.“
Der Geschäftsführer der TdL stellte gegenüber dem seinerzeitigen Vorsitzer des Vorstands der TdL, Finanzminister Prof. Dr. Halstenberg (SPD), am 12.12.1975 fest:
„Das Inkraftsetzen der Grundsatzvorschriften über die Eingruppierung der Angestellten war ein Erfolg der Arbeitgeber. Mit diesem Tarifvertrag ist die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass für die Höhergruppierung ein Anteil von 5 v. H. an der Gesamtarbeit ausreiche, dahin verändert worden, dass wenigstens die Hälfte der gesamten Arbeitszeit auf die höherwertige Tätigkeit entfallen muss, wenn eine Höhergruppierung möglich sein soll, es sei denn, dass in einem Tarifmerkmal ausdrücklich vereinbart ist, dass ein geringerer Zeitanteil für die Höhergruppierung ausreicht. Eine nachwirkungslose Kündigung trüge die Gefahr in sich, dass die Gewerkschaften kein zweites Mal bereit sein würden, einen solchen Verhandlungskompromiss einzugehen, um so mehr, als die Arbeitgeber auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein werden, den Gewerkschaften auf dem Gebiete des Eingruppierungsrechts irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Das Durchsetzen des Arbeitgeberstandpunktes war nur deshalb möglich, weil alle zwischen 1969 und 1973 abgeschlossenen Eingruppierungstarifverträge nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts rechtsunwirksam waren.“
Die Gewerkschaft ÖTV informierte ihre Mitglieder in den Angestellten-Nachrichten Nr. 5/7598 über die neu vereinbarten Eingruppierungsgrundsätze. Der Artikel belegt, dass auch die Gewerkschaft davon ausging, dass mit § 22 BAT Neuland betreten wird, da der Arbeitsvorgang eine neue Bewertungseinheit sei (und nicht die Fortsetzung der „einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit“). Die Eingruppierungsvorgänge sollten (durch kleinteiligere Bewertungseinheiten) überschaubarer und nachvollziehbarer werden. Der an den Tarifverhandlungen unmittelbar beteiligte Autor Jahnz spricht in der Mehrzahl formuliert von „Arbeitsvorgängen“ als „neue Bewertungseinheiten“. Denkbar seien „kleinere oder größere Bewertungseinheiten“ (und nicht große einheitliche Arbeitsvorgänge). Beispielhaft werden 195, 85 und 45 Arbeitsvorgänge in einem Monat (mit 174 Arbeitsstunden) angenommen; ein Beispiel mit nur einem großen einheitlichen Arbeitsvorgang wird nicht gebildet. Die in der Protokollnotiz Nr. 1 zu § 22 Abs. 2 BAT vereinbarten Beispiele seien der Verhandlungserfolg der ÖTV. Im Einzelnen schreibt er:
„Arbeitsvorgänge als Bewertungseinheiten
Die Tarifvertragsparteien haben mit dem Begriff ‚Arbeitsvorgänge‘ neue Bewertungseinheiten geschaffen, die den Eingruppierungsvorgang überschaubarer und nachvollziehbarer machen sollen. Was Arbeitsvorgänge im Sinne des § 22 sind, erläutert die Protokollnotiz Nr. 1 zu Abs. 2. Demnach bestehen Arbeitsvorgänge aus Arbeitsleistungen, die in Bezug auf den Aufgabenkreis des Angestellten zu einer bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen.
Diese abstrakte Beschreibung von Arbeitsvorgängen hat die Gewerkschaft ÖTV durch Beispiele, um die lange gerungen worden ist, in der Protokollnotiz Nr. 1 zu Abs. 2 verdeutlichen lassen. Arbeitsvorgänge sind demnach:
Unterschriftsreife Bearbeitung eines Aktenvorganges, Erstellung eines EKG, Fertigung einer Bauzeichnung, Eintragung in das Grundbuch, Konstruktion einer Brücke oder eines Brückenteils, Bearbeitung eines Antrags auf Wohngeld, Festsetzung einer Leistung nach dem Bundessozialhilfegesetz.
Da die vorstehend aufgeführten Beispiele, die Richtwerte für die Eingruppierungspraxis sind, ebenfalls auf den Aufgabenkreis des Angestellten bezogen werden müssen, können einige davon jeweils zeitlich kleinere oder größere Bewertungseinheiten sein, die wiederum unterschiedliche Anforderungen erfüllen können.
Damit unter Bearbeitung eines Aktenvorgangs keine engbegrenzte Arbeitsleistung verstanden werden kann, ist durch das Voranstellen des Wortes ‚unterschriftsreife‘ die Qualifikationsebene eines bei natürlicher Betrachtungsweise abgrenzbaren Arbeitsergebnisses angesprochen. Als Arbeitsergebnis in diesem Sinne dürfte zum Beispiel bei einem Rentenbearbeiter der Rentenbescheid, bei einem Sozialhilfebearbeiter die Festsetzung der Sozialhilfe und bei einem Wohngeldbearbeiter die Festsetzung des Wohngeldes sein, zumal die Bearbeitung eines Antrags auf Wohngeld und die Festsetzung einer Leistung nach dem Bundessozialhilfegesetz ausdrücklich beispielhaft als Aktenvorgänge genannt sind.
Soweit im Rahmen der unterschriftsreifen Bearbeitung dieser Aktenvorgänge Schriftwechsel zu erledigen, Ermittlungen zu führen und Stellungnahmen abzugeben sind, handelt es sich um Arbeitsleistungen, mit denen das Arbeitsergebnis bewirkt wird. Der Arbeitsvorgang ist somit eine Bewertungseinheit, die eine Vielzahl von Arbeitsleitungen umfassen kann.
Dass die Definition ‚Bei natürlicher Betrachtung abgrenzbares Arbeitsergebnis‘ so umfassend gemeint ist, ergibt sich auch aus dem beispielhaft genannten Arbeitsvorgang ‚Konstruktion einer Brücke oder eines Brückenteils‘. Das Arbeitsergebnis, das bei dem Rentenbearbeiter die Erstellung des Rentenbescheids sein kann, ist hier die Konstruktion einer Brücke oder eines Brückenteils. Die Alternative ‚Brückenteil‘ trägt dem Umstand Rechnung, dass an der Konstruktion einer Brücke möglicherweise mehrere Angestellte beteiligt sind.
…
Der Eingruppierungsvorgang in Thesen
Für einen Bewertungszeitraum (z. B. 1 Monat) ist folgendes zu tun:
1. Alle Arbeitsvorgänge der auszuübenden Tätigkeit des Bewertungszeitraums sind in ihrer jeweiligen zeitlichen Dauer festzustellen.
2. Die einzelnen Arbeitsvorgänge sind darauf zu überprüfen, welche der in den Tätigkeitsmerkmalen genannten Anforderungen zu ihrer Ausübung erforderlich sind.
3. Es ist zu prüfen, ob höhere Anforderungen (zum Beispiel vielseitige Fachkenntnisse) erfüllt sind, wenn mehrere Arbeitsvorgänge insoweit zusammen beurteilt werden, und wenn dieses der Fall ist, sind die höheren Anforderungen für alle bei dieser Betrachtung beteiligten Arbeitsvorgänge festzustellen.
4. Die Zeitdauer der Arbeitsvorgänge wird in der Reihenfolge der Arbeitsvorgänge der Anforderungen so lange addiert, bis die Hälfte der im Bewertungszeitraum auszuübenden Arbeitszeit erreicht ist.
Der Angestellte ist in der Vergütungsgruppe und nach dem Tätigkeitsmerkmal eingruppiert, denen die so festgestellten Anforderungen entsprechen.
Erläuterungen in Beispielen
Beispiel 1
Im Bewertungszeitraum (Monatsdurchschnitt 174 Stunden) werden 195 Arbeitsvorgänge ausgeübt. Diese erfüllen die Anforderungen gründliche Fachkenntnisse mit 87 Stunden, schwierige Tätigkeiten mit 87 Stunden.
Der Angestellte ist in der Vergütungsgruppe VII eingruppiert, weil die zeitliche Hälfte der Arbeitsvorgänge die Anforderung „gründliche Fachkenntnisse“ erfüllt.
Beispiel 2
Im Bewertungszeitraum (Monatsdurchschnitt 174 Stunden) werden 85 Arbeitsvorgänge ausgeübt. Diese erfüllen die Anforderungen selbständige Leistungen mit 44 Stunden, gründliche und vielseitige Fachkenntnisse mit 44 Stunden, gründliche Fachkenntnisse mit 86 Stunden.
Werden jedoch diese Arbeitsvorgänge insoweit zusammen beurteilt, erfüllen sie – das ist nicht grundsätzlich so – die Anforderung ‚gründliche und vielseitige Fachkenntnisse‘, die damit auf 130 Stunden festzusetzen ist.
Der Angestellte ist in der Vergütungsgruppe VIb eingruppiert, weil mehr als die Hälfte der Arbeitsvorgänge die Anforderung ‚gründliche und vielseitige Fachkenntnisse‘ und mehr als ein Viertel der Arbeitsvorgänge die Anforderung ‚selbständige Leistungen‘ erfüllt.
Beispiel 3
Im Bewertungszeitraum (Monatsdurchschnitt 174 Stunden) werden 45 Arbeitsvorgänge ausgeübt. Diese erfüllen die Anforderungen gründliche und vielseitige Fachkenntnisse mit 89 Stunden, selbständige Leistungen mit 72 Stunden, gründliche Fachkenntnisse mit 85 Stunden (Bemerkung: In einem Arbeitsvorgang werden häufig mehrere Anforderungen gleichzeitig erfüllt, woraus sich bei der Addition der Zeiten mehr als die Stunden der durchschnittlichen Arbeitszeit ergeben können.)
Der Angestellte ist in der Vergütungsgruppe Vc eingruppiert, weil er mehr als die Hälfte der Arbeitsvorgänge die Anforderung ‚gründliche und vielseitige Fachkenntnisse‘ und die Hälfte der Arbeitsvorgänge die Anforderung ‚selbständige Leistungen‘ erfüllt.
Bewährung in der Praxis
Die neuen Eingruppierungsgrundsätze sind so etwas wie tarifpolitisches Neuland, dem sich die Tarifvertragsparteien vorsichtig genähert haben. …
In der täglichen Praxis werden sich die Eingruppierungsgrundsätze bewähren müssen. Dazu sind Erfahrungen eines längeren Zeitraums erforderlich. Man wird damit rechnen müssen, dass der Gegensatz zwischen den Interessen des Bundes, der Länder und der Gemeinden einerseits und der Gewerkschaft ÖTV als Interessenvertretung der Angestellten zu Auslegungsdivergenzen in der Eingruppierungspraxis führt, die arbeitsgerichtlicher Klärung bedürfen. Ehe eine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt, wird es wohl noch lange dauern.“
5.Die Kritik an der aktuellen Rechtsprechung des 4. Senats in neun Thesen
Die aktuelle Rechtsprechung des BAG zur Eingruppierung der Beschäftigten in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften verstößt gegen die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie. Sie setzt sich unzulässigerweise an die Stelle des in der Tarifeinigung vom 11./12.11.1974 geronnenen und in den TV-L übernommenen Willens der Tarifvertragsparteien, entwertet das Verhandlungsergebnis für die Arbeitgeberseite und leistet damit in unzulässiger Weise der Gewerkschaftsseite nachträglich Verhandlungshilfe. Dies beruht auf der Fehlerhaftigkeit der Auslegung von § 12 TV-L bzw. (bis 31.12.2011) von § 22 BAT/BAT-O.
These 1: Die Weiterentwicklung und Veränderung des Tarifrechts über den geronnenen Willen der Tarifvertragsparteien hinaus ist ausschließlich ihre Sache.
Wenn das BAG im Urt. v. 9.9.202099 feststellt, dass die Rechtsprechung einer Weiterentwicklung und Veränderung unterlag, dann konstatiert es, dass es von Anfang an nicht nur seine Rechtsprechung, sondern das Tarifrecht weiterentwickelt und verändert hat.100
Dies ist (auch101) in Bezug auf Tarifverträge zweifellos Kernaufgabe der Gerichte. Jedenfalls so lange, als die Weiterentwicklung und Veränderung vom Willen der Tarifvertragsparteien gedeckt ist. Daher beschränkt sich das BAG aus gutem Grund bei der Füllung von Tariflücken nur auf sog. unbewusste Lücken und auch nur dann, wenn es eindeutige Hinweise auf den Willen der Tarifvertragsparteien gibt.102 Bewusste Tariflücken zu schließen, ist den Gerichten hingegen untersagt. Denn gegen den Willen der Tarifvertragsparteien ergänzende tarifliche Regelungen zu „schaffen“ oder eine schlechte Verhandlungsführung einer Tarifvertragspartei dadurch zu prämieren, dass ihr Vertragshilfe geleistet wird, wäre ein unzulässiger, dem Grundgesetz widersprechender Eingriff in die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie.103
Wenn es den Gerichten für Arbeitssachen aber untersagt ist, eine bewusste tarifliche Nichtregelung – zu der es z. B. aufgrund der Nichteinigung der Tarifvertragsparteien in Tarifverhandlungen gekommen ist104 – tarifrechtsweiterentwickelnd nach ihrem Gusto zu füllen, dann muss es ihnen erst recht untersagt sein, einer bewusst vereinbarten tariflichen Regelung einen Willen zu geben, der von dem bei der Vereinbarung bestehenden Willen der Tarifvertragsparteien abweicht. Anderenfalls würden sie sich zur Ersatztarifvertragspartei machen.
Daher ist das Dictum, die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folge den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln,105 insofern kritisch zu hinterfragen, als es den Willen der Tarifvertragsparteien zum nachrangigen Kriterium herabsetzt.106 Nach der verfassungsrechtlichen Wertung des Art. 9 Abs. 3 GG ist der Tarifvertrag als Verkörperung des Willens der Tarifvertragsparteien, wie er in der Tarifeinigung gefunden wurde, nichts mehr und nichts weniger als „geronnene Tarifautonomie“.
Diese ist von den Gerichten für Arbeitssachen zu (be-)achten, und zwar auch dann, wenn sie das von den Tarifvertragsparteien gefundene Ergebnis für nachbesserungswürdig halten oder der Auffassung sind, dass es ein besseres, sachgerechteres oder angemesseneres Regelungssystem gibt. Ein solches richterliches Nachbessern würde das an sich gewollte Verhandlungsergebnis nachträglich verändern. Damit würden die Gerichte unter Verstoß gegen die richterliche Neutralitätspflicht nachträglich Verhandlungshilfe leisten. Den im Tarifvertrag „geronnenen“ Willen der Tarifvertragsparteien durch einen anderen Willen zu ersetzen, ist jedoch allein Sache der Tarifvertragsparteien. Tarifverhandlungen finden am Verhandlungstisch statt und nicht auf der Richterbank.
These 2: Tarifvertragliche Klarstellungen erfordern einen übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien zu diesem Zeitpunkt.
Das BAG merkt im Urt. v. 9.9.2020107 an, dass eine tarifvertragliche Klarstellung der Tarifvertragsparteien bei der Übernahme der Tarifregelungen zum 1.1.2012 zu erwarten gewesen wäre, wenn die Entwicklung der Rechtsprechung hin zu zunehmend großen einheitlichen Arbeitsvorgängen „dem Willen der Tarifvertragsparteien entgegengestanden“ hätte. Dies zeugt von einer gewissen Distanz von den tarifpolitischen Realitäten.
Der Weg hin zu § 22 BAT war – wie unter 4. ausführlich beschrieben – äußerst komplex und konnte nur durch erhebliche Zugeständnisse an die Gewerkschaftsseite an anderer Stelle „erkauft“ werden.108 Wenn der 4. Senat anschließend über mehrere Jahrzehnte den Verhandlungserfolg der Arbeitgeberseite (und damit das „Opfer“ der Gewerkschaftsseite) Schritt für Schritt höchstrichterlich beseitigt, während den Gewerkschaften das arbeitgeberseitig Zugestandene verbleibt, welchen Grund sollte die Gewerkschaftsseite haben, das ursprünglich Vereinbarte nunmehr noch klarer formuliert wieder in Kraft zu setzen?
These 3: Der kleinteilig verstandene Arbeitsvorgang war bereits vor 1975 in der Judikatur vorzufinden und wurde 1975 von den Tarifvertragsparteien als vermeintlich „sicherer Hafen“ verwendet.
Streben Tarifvertragsparteien eine Neuregelung an, versuchen sie regelmäßig, bereits bekannte Begriffe aus der Rechtsprechung zu verwenden. Sie minimieren damit das Risiko für beide Seiten, dass die Gerichte für Arbeitssachen zu einer eigenen, vom Willen der Tarifvertragsparteien abweichenden Interpretation des Vereinbarten gelangen.
Auch den Begriff des Arbeitsvorgangs im Sinne einer kleinteiligeren Zusammenfassung von Arbeitsleistungen zu einem konkreten Arbeitsergebnis haben die Tarifvertragsparteien des § 22 BAT bereits in der Rechtsprechung des BAG vorgefunden:
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im Urt. v. 23.5.1973109 verwendete ihn das Gericht synonym zum Begriff des Geschäftsvorgangs, als es entschied, dass es für die Feststellung, ob innerhalb der einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit die heraushebende Anforderung zu mindestens 5 % erfüllt ist, auf die jeweils benötigte Arbeitszeit und nicht etwa darauf ankomme, „in welchem Zahlenverhältnis bestimmte Arbeitsvorgänge oder Geschäftsvorgänge als solche anfallen“;
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im Urt. v. 27.10.1970110 verwendete das BAG den Begriff bei einem Bezügerechner, der geltend machte, nach dem Tätigkeitsmerkmal der VergGr. Vc Fg. 15 des Teils I der Anlage 1 a zum BAT111 eingruppiert zu sein; es stellte fest, dass „die Tarifvorschrift in einem Klammersatz mehrere Arbeitsvorgänge aufführt“;
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im Urt. v. 10.12.1969112 urteilte das BAG bei einem Sachbearbeiter, der in der Amtsvormundschaft in einem Bezirksjugendamt eingesetzt war, zu den im Rahmen der einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit anfallenden Arbeiten,113 dass der Kläger „zur Erfüllung der Tätigkeitsmerkmale der VergGr. V c BAT die gründlichen, vielseitigen Fachkenntnisse nicht jeweils bei jedem Arbeitsvorgang einsetzen“ müsse;
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im Urt. v. 27.3.1968114 stellte das BAG bei einem Registerführer beim Einwohnermeldeamt115 fest, dass es das LAG unterlassen habe, „aus der Gesamttätigkeit des Klägers, die es der tariflichen Bewertung unterwirft, die einzelnen Arbeitsvorgänge, die selbständige Leistungen sind“, zu identifizieren und zu schätzen, in welchem Verhältnis sie zur Gesamttätigkeit stehen;
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im Urt. v. 14.2.1968116 kam es für das BAG bei einem amtlichen landwirtschaftlichen Sachverständigen nicht darauf an, „ob der Angestellte bei der ihm übertragenen Tätigkeit jederzeit alle von ihm geforderten Fähigkeiten für jeden einzelnen Arbeitsvorgang einzusetzen hat“.
Insofern war es geradezu überraschend, als der 4. Senat die 1975 von den Tarifvertragsparteien eliminierte „einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“117 in den Mantel des Arbeitsvorgangs kleidete, während das Gericht bis 1975118 von einem kleinteiligen Verständnis ausgegangen war. Der vermeintlich sichere Hafen war damit für die Arbeitgeberseite zur verhängnisvollen Falle geworden.
These 4: Mit der Gleichsetzung von Aufgabengebiet und Arbeitsvorgang kehrt der 4. Senat endgültig zur „einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit“ zurück.
Nach Ansicht des 4. Senats im Urt. v. 9.9.2020119 soll der Sichtweise „Arbeitsvorgang = Aufgabengebiet“ nicht entgegenstehen, dass im Klammerzusatz der zu Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L (wie schon in Satz 1 der ProtNot. zu § 22 Abs. 2 BAT) in (sämtlichen) Beispielen für einzelne Arbeitsvorgänge (ausschließlich) „einzelne Tätigkeiten“120 aufgeführt sind; je nach Inhalt der Aufgabe und Organisation des Arbeitgebers könne „zwar ggf. auch“ ein einzelner Aktenvorgang einen Arbeitsvorgang darstellen; es gebe jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass eine „Einzelbetrachtung der Tätigkeiten“ vorgenommen werden solle.
Damit räumt der 4. Senat nichts mehr und nichts weniger ein, als die praktische Ausradierung der im großen Tarifkompromiss von 1975 erstmals vereinbarten kleinteiligeren Bewertungseinheit „Arbeitsvorgang“121 zugunsten der seinerzeit gerade getilgten, überkommenen122 richterrechtlich geprägten „einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit“.123 Praktische Fälle, in denen die beispielhaft im Klammerzusatz zu Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L aufgeführten konkreten Arbeitsanfälle noch als Bewertungseinheit für die Eingruppierung heranzuziehen sind, dürften in Zukunft nahezu ausgeschlossen sein. Der Klammerzusatz zu Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 TV-L läuft damit künftig praktisch vollends leer.124 Dass die Tarifvertragsparteien dies bei der erstmaligen Vereinbarung der Grundsätze über die Eingruppierung in § 22 BAT und bei der neuerlichen Vereinbarung in § 12 TV-L beabsichtigt haben, kann schlechterdings nicht angenommen werden.125
Mit einer solch grundlegenden Umgestaltung von § 12 TV-L stellt der 4. Senat die Tarifnorm vollends auf den Kopf126 und greift damit unmittelbar in die verfassungsrechtlich gesicherten Rechte der Tarifvertragsparteien ein;127 eine solche Änderung wäre allein ihre Sache.
Kaum der Rede wert waren dem 4. Senat hingegen die Argumente der aufgeführten Vertreter der „abweichenden Ansicht“, die nahezu das gesamte arbeitgebernahe Schrifttum versammelt und die gebetsmühlenartig u. a. auf den Wortlaut sowie Sinn und Zweck von § 12 TV-L bzw. § 22 BAT verweist.128
These 5: Mit dem nicht weiter begründeten Hinweis auf eine nicht entgegenstehende Tarifgeschichte unterlässt der 4. Senat die Auseinandersetzung mit den historischen Fakten.
Nach Ansicht des 4. Senats im Urt. v. 9.9.2020129 soll auch die Tarifgeschichte kein „anderes“ Verständnis als das eigene gebieten.
Mit dieser knappen Aussage vermeidet er es, sich mit den unter 3. aufgeführten tarifhistorischen Fakten sowie den kritischen Äußerungen im Schrifttum130 auseinanderzusetzen. Er missachtet damit den in § 12 TV-L geronnenen Willen der Tarifvertragsparteien sowie die Anforderungen an die Auslegung von Tarifverträgen.
These 6: Die tariflich geforderte „natürliche Betrachtung“ muss eine zwanglose und lebensnahe Betrachtung sein.
Entsprechend dem Wortlaut von Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L ist eine „natürliche Betrachtung“ vorzunehmen. Dies erkennt zwar auch der 4. Senat in ständiger Rechtsprechung im Grundsatz an,131 wenngleich er dann keine natürliche, sondern eine tarifrechtliche Betrachtung vornimmt. Vereinbart haben die Tarifvertragsparteien jedoch eine natürliche Betrachtung im Sinne einer zwanglosen und lebensnahen Betrachtung132 eines objektiven Dritten. Tarifvertragsparteien gebrauchen Begriffe grundsätzlich in dem Sinn, der dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem der beteiligten Berufskreise entspricht.133 Der Duden134 versteht unter natürlich „in der Natur vorkommend, nicht künstlich vom Menschen nachgebildet, hergestellt“ bzw. „unverbildet, ungezwungen, nicht gekünstelt“.
Käme also ein lebensnaher Dritter tatsächlich mit dem 4. Senat zu der Erkenntnis, als Arbeitsvorgänge von Gleichstellungsbeauftragten das „Aufdecken und Abhelfen von geschlechtsbezogenen Benachteiligungen innerhalb der Stadt“135 zu beschreiben? Käme er tatsächlich mit dem 4. Senat zu der Erkenntnis, als Arbeitsvorgänge bei Sozialarbeitern die „Befassung mit allen Fällen“136 anzusehen? Und käme er tatsächlich mit dem 4. Senat zu der Erkenntnis, als Arbeitsvorgänge von Beschäftigten in Serviceeinheiten von Gerichten und Staatsanwaltschaften die „Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit vom Eingang bis zum Abgang des Verfahrens“ anzusehen?
Eine mitten im Leben stehende Gleichstellungsbeauftragte, die am Abend nach Hause kommt, würde ihren Kindern auf die Frage „Mama, was hast Du heute in der Arbeit gemacht?“ wohl kaum antworten: „Ich habe heute das Ziel gehabt, geschlechtsbezogene Benachteiligungen innerhalb der Stadt aufzudecken und ihnen abzuhelfen.“ Lebensnah und „natürlich“ dürfte die Antwort sein: „Ich habe heute erst an meinem Bericht geschrieben und nachmittags war ich in zwei Einstellungsgesprächen.“ Ein Sozialarbeiter, der am Wochenende seinen Vater besucht, würde auf die Frage „Na Sohn, was macht die Arbeit?“ wohl kaum antworten: „Ich befasse mich mit allen Fällen.“ Lebensnäher dürfte die Antwort sein: „Gestern habe ich vier Rauschgiftsüchtige beraten und drei Menschen, die psychisch krank sind.“ Und eine Beschäftigte in einer Serviceeinheit würde am Abend ihrem Ehemann auf die Frage „Liebes, wie war Dein Tag in der Arbeit heute?“ wohl kaum antworten: „Stressig. Zuerst habe ich die Aktenvorgänge betreut.“ Lebensnäher dürfte doch die Antwort sein: „Ich habe in der Sache a das Verhandlungsprotokoll geführt, dann habe ich noch in der Sache b das Urteil geschrieben und zwischendurch Sachstandsanfragen in den Sachen c, d und e beantwortet.“
These 7: Das Wort „abgrenzbar“ haben die Tarifvertragsparteien im allgemeinen Wortsinn einer „möglichen Abgrenzung“ verwendet.
Mit dem Adjektivsuffix „-bar“ werden Adjektive in der Möglichkeitsform gebildet.137 Dies war auch den Tarifvertragsparteien bekannt.138 Dementsprechend wollten sie mit der Verwendung des Wortes „abgrenzbar“ in der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L die Möglichkeit des Abgrenzens ausreichen lassen.
Der 4. Senat139 geht jedoch in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass sich aus der Verwendung des Wortes „abgrenzbar“ nicht ableiten lässt, dass für die Bildung konkreter Arbeitsvorgänge die theoretische Möglichkeit maßgeblich ist, einzelne Arbeitsschritte oder Einzelaufgaben auf andere Beschäftigte übertragen zu können. Entscheidend sei stattdessen, ob eine solche Trennung im konkreten Fall organisatorisch umgesetzt sei. Bedenken aufgrund des eindeutigen Wortlauts verwirft das Gericht ohne inhaltliche Begründung als „abweichende Ansicht“140 oder nimmt sie gar nicht zur Kenntnis.141
Zieht man die Rechtsprechung des BAG vor der Vereinbarung von § 22 BAT n. F. zu Rate, wird offenbar, dass die inzwischen zur Kernfrage bei der Definition des Arbeitsvorgangs erwachsene Entscheidung zwischen „abgrenzbaren“ und „abgegrenzten“ Arbeitsschritten keineswegs neu ist.
So hatte das BAG in dem mit Urt. v. 16.10.1974142 entschiedenen Fall eines Büroleiters in einem Forstamt, dem die Dienstaufsicht über das Kanzleipersonal des Forstamtes und dessen Arbeitseinteilung oblag,143 eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit bejaht und sich entgegen dem Vorbringen des beklagten Landes darauf zurückgezogen, dass allein die Tatsache, dass die Aufgaben auch verschiedenen Angestellten übertragen werden könnten, keinesfalls dazu zwinge, jeweils von für sich zu bewertenden Teiltätigkeiten auszugehen. Zuvor hatte das BAG mit Urt. v. 6.6.1973144 bei einem Güteprüfer für Konfektion bei der Bundeswehr145 eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit bejaht. Auf das Vorbringen der Beklagten, eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit komme nicht in Betracht, weil die verschiedenen Prüfaufgaben des Klägers voneinander getrennt und verschiedenen Angestellten übertragen werden könnten, erwiderte das BAG, dass für die Annahme einer einheitlich zu bewertenden Gesamttätigkeit allein schon der Umstand spreche, „dass der Kläger seine Tätigkeit allein ausgeübt hat, so dass er jedenfalls ohne die Möglichkeit der Arbeitsteilung jeweils alle anfallenden Aufgaben zu erledigen hatte“. Zuvor hatte das BAG noch im Urt. v. 10.3.1971146 bei einem Angestellten in der Sozialabteilung eines Landkreises eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit verneint. Die Tätigkeit bestehe „vielmehr, wie es gerade für ein kleineres Landratsamt typisch ist, aus verschiedenen, sachlich nicht zusammenhängenden, unabhängig voneinander ausführbaren Teiltätigkeiten“.
Allein diese Entscheidungen147 legen es nahe, dass den Verhandlern des 37. Änd.-TV zum BAT v. 17.3.1975 der Unterschied zwischen „abgrenzbar“ und „abgegrenzt“ durchaus bekannt war und sie im Wortlaut der ProtNot. Nr. 1 zu § 22 Abs. 1 BAT ganz bewusst „abgrenzbar“ verwendet haben. Im Lichte dessen eine tatsächliche organisatorische Abgegrenztheit zu verlangen, anstatt des vereinbarten „abgrenzbaren Arbeitsergebnisses“, verstößt gegen den im Tarifwortlaut geronnenen und bei der Vereinbarung von § 22 BAT bestehenden Willen der Tarifvertragsparteien. Eine andere Regelung zu vereinbaren, wäre allein ihre Sache.
Wenn der 4. Senat also „abgrenzbar“ mit „tatsächlich abgegrenzt“ gleichsetzt, verkennt er die allgemeine Bedeutung des Adjektivsuffixes „-bar“ und verstößt gegen die Grundsätze der Wortlautauslegung anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs.148
These 8: Mit der Zusammenfassung wiederkehrender und gleichartiger Arbeitsleistungen zu einem Arbeitsvorgang verstößt der 4. Senat gegen den Tarifwortlaut.
Das BAG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei „der Zuordnung zu einem Arbeitsvorgang … wiederkehrende und gleichartige Tätigkeiten zusammengefasst werden“ können.149 Dies widerspricht dem Wortlaut von Satz 1 der ProtErkl. Nr. 1 zu § 12 Abs. 1 TV-L und dem darin zum Ausdruck gekommenen Willen der Tarifvertragsparteien bei der erstmaligen Vereinbarung der Tarifregelung durch den 37. Änd.-TV zum BAT v. 17.3.1975.
Richtig ist: Die wiederkehrenden und gleichartigen Tätigkeiten sind – wenn es sich um wiederkehrende gleichartige Arbeitsvorgänge (z. B. Reisekostenabrechnungen) handelt – entsprechend dem tarifvertraglich Vereinbarten150 einzeln (!) zu bewerten und nicht etwa zu einem Arbeitsvorgang zusammenzufassen und anschließend zu bewerten; Arbeitsvorgang ist die unterschriftsreife Bearbeitung eines (einzelnen) Aktenvorgangs und nicht die unterschriftsreife Bearbeitung von Aktenvorgängen.151 Nur dann können anspruchsvollere gleichartige Arbeitsvorgänge (z. B. Reisekostenabrechnungen bei Auslandsreisen gegenüber Reisekostenabrechnungen bei Inlandsreisen) dem „Arbeitsvorgangsstapel“ zugeordnet werden, der die Anforderungen der höheren Entgeltgruppe erfüllt.152 Mit anderen Worten: Eine Zusammenfassung zu einer „Arbeitsvorgangsgruppe“ erfolgt erst, wenn sämtliche Arbeitsvorgänge tarifvertraglich bewertet sind.
These 9: Der „Bezug auf den Aufgabenkreis“ des Beschäftigten ist kein Argument für die Bildung großer einheitlicher Arbeitsvorgänge.
Arbeitsvorgänge sind nach der tariflichen Definition Arbeitsleistungen, die, „bezogen auf den Aufgabenkreis“ des Beschäftigten, zu einem bei natürlicher Betrachtung abgrenzbaren Arbeitsergebnis führen. Dies erkennt auch der 4. Senat153 an, wenngleich er den Einschub zur Begründung dafür heranziehen will, dass bei der Bildung von Arbeitsvorgängen die vom Arbeitgeber gewählte Organisationsform und die Art der Zuweisung von Tätigkeiten (z. B. einheitlich oder getrennt), aber auch der mehr oder weniger enge inhaltliche Zusammenhang zwischen einzelnen Arbeitsleistungen zu berücksichtigen seien.
Hiermit jedoch die Bildung von großen einheitlichen Arbeitsvorgängen zu begründen und damit durch die Hintertür die frühere „einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit“ wiedereinzuführen, entspricht weder dem Tarifwortlaut154 noch dem darin geronnenen Willen der Tarifvertragsparteien.155
Den Begriff des Aufgabenkreises haben die Tarifvertragsparteien des 37. Änd.-TV zum BAT v. 17.3.1975 aus der früheren Rechtsprechung übernommen, die darunter „die dem Angestellten übertragene und nach § 3 Abs. 2 TO.A bzw. §§ 22, 23 BAT zu bewertende Tätigkeit“156 verstand. Mit der Aufnahme in § 22 BAT n. F. wollten sie klarstellen, dass bei Tätigkeiten, deren Verrichtung mehreren Beschäftigten übertragen ist, nur der Ausschnitt zu bewerten ist, der auf den Beschäftigten entfällt, dessen Tätigkeitsbewertung ansteht.157 Damit haben sie eine zeitlose, atmende Bewertungseinheit geschaffen, die auch dann zu praktikablen Ergebnissen führt, auch wenn einzelnen Beschäftigten – wie bei der ganzheitlichen Bearbeitung von Vorgängen in den Serviceeinheiten – aufgrund der Arbeitsorganisation nicht der einzelne Aktenvorgang vom Anfang bis zum Ende übertragen ist.
In den „Bezug auf den Aufgabenkreis“ hineinzuinterpretieren, dass z. B. der enge inhaltliche Zusammenhang von Arbeitsleistungen gegen die Bildung getrennter Arbeitsvorgänge sprechen soll,158 ist mit dem Wortlaut nicht zu vereinbaren, der entscheidend auf die Abgrenzbarkeit als „Möglichkeit der Abgrenzung“ von Arbeitsleistungen abstellt. Der Erlass eines Widerspruchsbescheides bleibt ein Arbeitsvorgang, auch wenn er inhaltlich eng mit dem Erlass weiterer Widerspruchsbescheide zusammenhängt.
Ebenso unzulässig ist es, in den „Bezug auf den Aufgabenkreis“ hineinzuinterpretieren, dass die einheitliche Übertragung eines Aufgabengebietes gegen die Bildung getrennter Arbeitsvorgänge sprechen soll. Gerade im Bereich öffentlicher Dienstleistungen übertragen Arbeitgeber Aufgabenkreise, ohne die konkreten Arbeitsanfälle bereits genau kennen zu können. Die Tätigkeit in einem „Bürgeramt“, in dem eine Vielzahl von Leistungen der Stadtverwaltung angeboten werden (z. B. Anmeldung einer Haupt- oder Nebenwohnung, Beantragung eines Personalausweises, eines Führungszeugnisses oder eines Anwohnerparkausweises, Kfz-Zulassung), beinhaltet gleichwohl eine Vielzahl abgrenzbarer Arbeitsleistungen, deren zeitlicher Umfang (für die Frage der Eingruppierung nachträglich) in einem angemessenen Zeitraum ermittelt werden. Der Zeitraum ist angemessen, wenn gewährleistet ist, dass die in dem Aufgabenkreis des Beschäftigten auf Dauer regelmäßig anfallenden Arbeitsvorgänge sicher erfasst werden; das BAG verlangte hierzu in der Vergangenheit mindestens sechs Monate.159
6.Der Antrieb der Arbeitgeber
Aktuell wird kolportiert, die Arbeitgeber planten den „Angriff auf das System der Eingruppierung“.160 Ziel sei es, massive Verschlechterungen bei der Eingruppierung durchzusetzen; die TdL plane Herabgruppierungen,161 wolle den Beschäftigten ans Geld.162
Richtig ist stattdessen, was dieser Beitrag belegt: Die Arbeitgeber fordern nichts mehr und nichts weniger ein als die Anwendung und Auslegung des Tarifrechts, und zwar so, wie es dem Willen der Tarifvertragsparteien bei seiner Vereinbarung entspricht.163 Damit wollen sie der tarifvertraglich vielfach vorgesehenen abgestuften Eingruppierung als geronnenem Willen der Tarifvertragsparteien zur (Wieder-)Anwendung in der Praxis verhelfen. Beschäftigte, die anspruchsvollere Tätigkeiten in größerem Umfang übernehmen, sind mit einem höheren Entgelt zu belohnen;164 die Eingruppierung knüpft nicht nur an die Ausbildung, sondern auch und vor allem an die Tätigkeit an. Dies liegt im Interesse des Betriebsfriedens und ermöglicht erst eine sinnvolle Personalentwicklung im Rahmen einer für Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen sinnvollen Arbeitsorganisation.
7.Fazit
In seinem Urt. v. 9.9.2020 zur Eingruppierung von Beschäftigten in Serviceeinheiten bei Gerichten und Staatsanwaltschaften der Länder hat der 4. Senat mit seinem Rückblick bis zum Inkrafttreten von § 22 n. F. am 1.1.1975 nicht weit genug in die Tarifbeschichte zurückgeblickt. Der Tarifwortlaut von § 12 TV-L bzw. § 22 BAT n. F. und die historischen Fakten aus der Zeit vor 1975 belegen zweifellos, dass mit der seinerzeitigen Neuregelung von § 22 BAT die einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit von der kleinteiligeren Bewertungseinheit des Arbeitsvorgangs abgelöst wurde. Damit wollten die Tarifvertragsparteien des BAT die vorherige Rechtsprechung des 4. Senats gegenstandslos machen, die innerhalb der Gesamttätigkeit lediglich 5 % anspruchsvolle Tätigkeiten genügen ließ. Diesen geronnenen Willen haben die Tarifvertragsparteien des TV-L in § 12 TV-L fortgeschrieben.
Der 4. Senat lässt hingegen mit seiner Auslegung von § 12 TV-L die differenzierenden Eingruppierungsstrukturen der Entgeltordnung zum TV-L leerlaufen. Dies verstößt gegen den „geronnenen Willen“ der Tarifvertragsparteien und damit gegen Art. 9 Abs. 3 GG.