Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflichten
§ 88 AO regelt den Untersuchungsgrundsatz für alle Finanzbehörden grundlegend – und damit auch für die Familienkassen. Nach AEAO zu § 88 AO, Nr. 3 können bei der Entscheidung über Art und Umfang der Ermittlungen nach § 88 Abs. 2 Satz 2 AO auch Zweckmäßigkeitsgründe und das Verhältnis von Arbeitsaufwand und – dem zweifelsohne beim Kindergeld im Einzelfall – geringen steuerlichem Erfolg berücksichtigt werden.
Die Aufklärungspflicht der Finanzbehörden wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten (§ 90 AO) begrenzt. Für den Regelfall kann davon ausgegangen werden, dass die Angaben des Steuerpflichtigen in der Steuererklärung vollständig und richtig sind. Die Finanzbehörde kann den Angaben eines Steuerpflichtigen Glauben schenken, wenn nicht greifbare Umstände vorliegen, die darauf hindeuten, dass seine Angaben falsch oder unvollständig sind. Vgl. dazu auch V 6.1 DA-KG.
Übersetzt für den Alltag der Familienkasse bedeutet das:
Die Mitwirkungspflichten sind in V 7 DA-KG ausführlich beschrieben. Insbesondere sind die Berechtigten nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG verpflichtet, Änderungen in den tatsächlichen Verhältnissen anzuzeigen. Diese Verpflichtung besteht auch in der aktuellen Krisenlage weiterhin. Zum Umgang mit Verstößen gegen die Mitwirkungspflichten vgl. weiter unten.
Aktuell kein Besuch der Ausbildung möglich
Zunächst stellen sich Fragen zur kindergeldrechtlichen Berücksichtigungsfähigkeit, wenn Ausbildungen für einen Beruf (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG) aufgrund von Beschränkungen infolge des eingangs beschriebenen Infektionsgeschehens aktuell nicht durchgeführt werden. Nach Auffassung des Autors ist dies unerheblich, die kindergeldrechtliche Berücksichtigungsfähigkeit bleibt davon zumindest solange unberührt, wie die rechtliche Bindung zur Ausbildungsstätte fortbesteht. Selbst A 15.11 Abs. 1 Satz 1 DA-KG sieht eine krankheitsbedingte Unterbrechung der Ausbildung erst dann als gegeben an, wenn die rechtliche Bindung zur Ausbildungsstätte nicht mehr besteht. Kann also ein volljähriges Kind seine schulische, betriebliche, fachschulische, universitäre usw. Ausbildung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a EStG aufgrund der aktuellen Einschränkungen im öffentlichen Leben nicht besuchen, so bleibt den Eltern gleichwohl der Kindergeldanspruch erhalten. Nach hiesiger Meinung ist es deshalb derzeit auch entbehrlich, hierzu irgendwelche Ermittlungen anzustellen.
Derzeit ist noch unklar, ob der reguläre Schulbetrieb insgesamt bis zu den diesjährigen Sommerferien wiedereröffnet werden kann. Auch hier gilt: Solange die rechtliche Bindung der Schüler/-innen zur Ausbildungsstätte fortbesteht, besteht auch der Anspruch auf Kindergeld.
Erst dann, wenn ein volljähriges Kind tatsächlich seine Ausbildung beendet oder abbricht, besteht ab dem Folgemonat hiernach kein Kindergeldanspruch mehr. Insoweit muss der Berechtigte dies auch in der aktuellen Situation seiner Familienkasse anzeigen (§ 68 EStG).
Beendigung der (schulischen) Ausbildung im Jahr 2020
Insbesondere für den diesjährigen Abiturjahrgang könnte sich die Situation ergeben, dass noch früher als sonst üblich eine offizielle Schulentlassung mit dem Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife erfolgt. Auch hier ergeben sich bis einschließlich des Monats des offiziellen Schuljahresendes – i. d. R. Juli – keinerlei kindergeldrechtliche Auswirkungen; vgl. dazu A 15.10 Abs. 1 Satz 2 DA-KG. Gleiches gilt auch für die Beendigung der Fachoberschule Klasse 12 und schulische Berufsausbildungen.
Sollte sich hingegen ergeben, dass schulische oder betriebliche Ausbildungen aufgrund der „ausgefallenen“ Zeiten verlängert werden, besteht auch dafür bis zur Vollendung der Höchstaltersgrenze (25. Lebensjahr) der Kindergeldanspruch fort.
Siehe hierzu auch in der Rubrik „Durchführung von Überprüfungsverfahren“.
Weitere Berücksichtigung als ausbildungsplatzsuchendes Kind
Ab dem Folgemonat nach der Beendigung einer vorhergehenden Schulausbildung – zumeist also August – muss dann nachgewiesen werden, dass das volljährige Kind weiterhin einen der Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG erfüllt. Hier können sich evtl. Problemlagen ergeben, wenn sich ein Kind infolge der aktuellen Einschränkungen nicht für einen Ausbildungsbeginn im Sommer/Herbst 2020 hat bewerben können bzw. laufende Bewerbungsverfahren unterbrochen wurden und in Folge dessen dann seine Ausbildung nicht im Sommer/Herbst 2020 fortsetzen kann. Nach Auffassung des Autors genügt es in diesen Fällen für die kindergeldrechtliche Berücksichtigung als ausbildungsplatzsuchendes Kind (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe c EStG), wenn das volljährige Kind eine schriftliche Willenserklärung abgibt, sich nach Wegfall der aktuellen Beschränkungen durch das Infektionsgeschehen zum frühestmöglichen Zeitpunkt um einen Ausbildungs- oder Studienplatz bewerben zu wollen; vgl. hierzu auch A 17.1 Abs. 1 Satz 10 DA-KG. Zu beachten ist hier, dass eine solche Erklärung des Kindes nach V 6.1 Abs. 1 Satz 8 DA-KG nach Auffassung des Weisungsgebers nur ab dem Monat des Eingangs bei der Familienkasse wirkt; danach muss also bei Beendigung der Schulausbildung im Monat Juli 2020 die Erklärung spätestens am 31.8.2020 bei der Familienkasse eingehen.
Natürlich muss sich das volljährige Kind dann nach Ende der Beschränkungen in Folge des Infektionsgeschehens tatsächlich um einen Ausbildungsplatz bemühen (entweder durch Eigenbemühungen oder Meldung als Bewerber um einen Ausbildungsplatz).
Vorstehende Ausführungen gelten nach Auffassung des Autors entsprechend,
Da derzeit absolut nicht absehbar ist, wann ein Ende der Einschränkungen des öffentlichen Lebens und ebenso der Folgewirkungen der Corona-Pandemie möglich sein wird, sind zeitliche Beschränkungen der Wirksamkeit von Willenserklärungen volljähriger Kinder (dem Vernehmen nach von der Fachaufsicht auf drei Monate beabsichtigt) nach Auffassung des Autors allerdings nicht zielführend.
Kind vollendet das 18. Lebensjahr
Vollendet ein Kind sein 18. Lebensjahr, endet die bisherige Kindergeldfestsetzung (V 10 Abs. 4 DA-KG) und damit auch die Auszahlung. Will der Berechtigte auch für die Zeit danach noch Kindergeld für dieses Kind erhalten, muss er es erneut beantragen. Vgl. dazu Teil VI/A.20.
Im Rahmen des Antragsverfahrens muss der Berechtigte durch Vorlage geeigneter Nachweise belegen, dass sein Kind einen der besonderen Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 EstG erfüllt. Zumindest in „normalen“ Zeiten!
Kann ein geeigneter Nachweis aufgrund der aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht erbracht werden, sollten sich die Familienkassen aus Sicht des Autors auch hier großzügig zeigen. Bedacht werden muss hier, dass das Kindergeld – und evtl. zustehende Annexleistungen wie Familienzuschläge – inzwischen einen nicht unerheblichen Anteil am Familieneinkommen haben, dem gerade in Zeiten, in denen die Haupteinnahmequellen durch evtl. Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit ohnedies schon geschmälert sind, eine besondere Bedeutung zukommt.
Können aufgrund der Schließung von Schulen oder Betrieben aktuell z. B. keine Nachweise über eine Ausbildung des Kindes beigebracht werden, sollte man sich daran erinnern, dass den Angaben eines Steuerpflichtigen in den Antragsunterlagen auch einfach so Glauben geschenkt und in Folge dessen Kindergeld ab dem Monat nach Vollendung des 18. Lebensjahres festgesetzt werden kann (ähnlich auch V 6.1 Abs. 1 Satz 7 DA-KG). Nachweise über den jeweiligen Berücksichtigungstatbestand können die Familienkassen dann später nachfordern. So erlaubt z. B. das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 18.7.2016 (BGBl. I Nr. 35 vom 22.7.2016) bereits seit längerem, dass im Rahmen einer elektronischen Steuererklärung keine Belegvorlagepflicht besteht, sondern der Steuerpflichtige lediglich verpflichtet ist, die Belege für eine bestimmte Zeit nachzuhalten und dann auf Aufforderung der Finanzbehörde einzureichen. Wieso sollte ein späteres Vorlegen von Nachweisen nicht auch in besonderen Krisenzeiten möglich sein?
Allerdings muss der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, dass zu dieser Fallgestaltung bisher keine Weisungen des BZSt bekannt sind. Hier wäre eine alsbaldige klare Regelung der Fachaufsicht hilfreich.
Entscheidet sich die Familienkasse dafür, dass ohne Vorlage geeigneter Nachweise keine Kindergeldfestsetzung erfolgen kann, sollte ein vorliegender Kindergeldantrag solange von der Bearbeitung zurückgestellt werden, bis der Berechtigte einen solchen Nachweis vorlegen kann. Auf gar keinen Fall sollte die Kindergeldfestsetzung wegen fehlender Mitwirkung abgelehnt werden.
Durchführung von Überprüfungsverfahren
O 2.10 DA-KG schreibt für vielfältige Berücksichtigungstatbestände regelmäßige Überprüfungen daraufhin vor, ob die Anspruchsvoraussetzungen auf Kindergeld seit der letzten Festsetzung bzw. Überprüfung durchgängig vorgelegen haben und auch noch weiterhin vorliegen. Dies sind insbesondere:
Zudem ist in den Fällen einer kindergeldrechtlichen Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstaben a – d EStG auch regelmäßig zu überprüfen, ob dieses Kind eine Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen hat und einer anspruchsschädlichen Erwerbstätigkeit nachgeht; vgl. dazu A 20.1 Abs. 3 DA-KG.
In der gegenwärtigen Situation wird es bei den Kindergeldberechtigten vielfach auf Unverständnis stoßen, wenn sie aufgefordert würden, an regelmäßigen Überprüfungen mitzuwirken, insbesondere auch Nachweise dafür beibringen müssten.
Letztlich berührt auch eine zeitliche Verschiebung oder gar Aussetzung der eingangs beschriebenen Überprüfungsaktionen nicht die ohnehin weiter bestehenden Mitwirkungspflichten des Berechtigten. Selbst wenn die Familienkassen erst im Rahmen einer (wenige Monate) später durchgeführten (nächsten) Überprüfungsaktion feststellen sollte, dass Kindergeld schon in der Vergangenheit zu Unrecht gezahlt wurde, besteht hier immer noch die Möglichkeit zur Aufhebung der Festsetzung und in Folge dessen zur Forderung der Erstattung des zu Unrecht gezahlten Kindergeldes vom Zahlungsempfänger.
Die Durchführung der unter den vorstehenden Ziffern 1, 3, 4 und 5 beschriebenen Überprüfungsaktionen wäre nach hiesiger Meinung in der gegenwärtigen Situation nur schwerlich nachzuvollziehen. Es gibt sicherlich Wichtigeres, als eine kindergeldrechtliche Normalität aufrecht zu erhalten, wenn rundherum eine absolute Ausnahmesituation vorliegt, von der selbst Spitzenpolitiker/-innen die Meinung vertreten, dass deren Ausmaß seit dem Ende des 2. Weltkrieges einmalig in Deutschland sei. Hier bleibt zu hoffen, nein: zu erwarten, dass der Weisungsgeber noch zeitnah eine eindeutige – und vor allem mutige – Anordnung trifft, wonach derzeit keine Überprüfungen in den unter den vorstehenden Ziffern 1, 3, 4 und 5 beschriebenen Überprüfungsanlässen erfolgen, diese ggf. sogar einmalig im Jahr 2020 komplett ausfallen können. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen – die Politik geht da derzeit beispielhaft voran, nun muss auch die Exekutive folgen!
Die Prüfung aus Anlass des Schul- und Berufsausbildungsendes (vgl. obige Ziffer 2) ist hingegen unverzichtbar, um den Kindergeldberechtigten auch über den Sommer 2020 hinaus das Kindergeld für volljährige Kinder weiterhin gewähren zu können. Zu etwaigen Prüfungserleichterungen vgl. oben.
Umgang mit Verletzungen der Mitwirkungspflichten
In „normalen“ Zeiten ahnden auch Familienkassen Mitwirkungspflichtverletzungen konsequent:
Nach Auffassung des Autors sollten Mitwirkungspflichtverletzungen in besonderen Ausnahmesituationen wie der aktuellen Krisenlage im Zusammenhang mit dem sog. Corona-Virus mit ganz besonderem Augenmaß gewürdigt werden. Hierbei sollte zugunsten des Berechtigten, der z. B. eine Veränderungsanzeige verspätet oder zunächst auch gar nicht erstattet hat, nicht nur eine eigene Infektion mit dem Virus einhergehend mit bedrohlichen Krankheitssymptomen berücksichtigt werden. Vielmehr sollten z. B. auch
berücksichtigt werden.
Klaus Lange
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