In dem beim BFH anhängigen Verfahren wurde Kindergeld mit Antrag vom 30.7.2019 (Eingang) bei der zuständigen Familienkasse für ein Kind rückwirkend beantragt. Kindergeld wurde daraufhin rückwirkend für mehr als sechs Monate festgesetzt. Im Bescheid wies die Familienkasse allerdings darauf hin, dass wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Auszahlung des festgesetzten Kindergelds erst ab Januar 2019 und damit nur für die letzten sechs Monate vor Antragstellung erfolgen könne. Der dagegen erhobene Einspruch blieb erfolglos.
Im Laufe des dagegen gerichteten Klageverfahrens erließ die Familienkasse einen Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 der Abgabenordnung) mit dem entschieden wurde, dass eine Kindergeldauszahlung für die Monate Februar 2017 bis Dezember 2018 wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht erfolgen könne. Der gegen den Abrechnungsbescheid gerichtete Einspruch wurde von der Familienkasse zurückgewiesen.
Das Finanzgericht Münster wies die Klage gegen den Abrechnungsbescheid am 21.5.2021 als unbegründet zurück (AZ: 4 K 3164/20 AO). Der BFH bestätigte die Entscheidung des FG Münster und begründete seine Auffassung zur Verfassungsmäßigkeit des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG (ebenso wie die des durch ihn ersetzten § 66 Abs. 3 EStG a.F.) wie folgt:
„… 3. b) bb) Die von der Klägerin vorgetragenen verfassungsrechtlichen Zweifel sind für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblich. Denn sie beziehen sich nicht auf die sich aus dem streitigen Abrechnungsbescheid ergebende Beschränkung der Auszahlung rückwirkend festgesetzten Kindergelds nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, sondern auf die Freibeträge für Kinder nach § 32 Abs. 6 EStG und die Berücksichtigung nicht ausgezahlten Kindergelds bei der Günstigerprüfung nach § 31 EStG, worüber im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin zu streiten wäre (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2021, 449, Rz 15).
cc) Der Senat weist darauf hin, dass sich im Übrigen auch durch das Zusammenspiel von § 70 Abs. 1 Satz 2 und § 31 EStG bei der Einkommensteuerveranlagung kein Verstoß gegen das Gebot der Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes ergeben kann. Denn insoweit war nach früherer Rechtslage § 31 Satz 4 EStG verfassungskonform dahin auszulegen, dass wegen § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht festgesetztes oder nicht gezahltes Kindergeld bei der Günstigerprüfung nur in Höhe von 0 € berücksichtigt wird. Das gilt entsprechend auch für Kindergeld, das wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlt wird.
Soweit ein festgesetzter und aufgrund des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlter Anspruch auf Kindergeld nach der erstmals im Veranlagungszeitraum 2019 anzuwendenden Regelung des § 31 Satz 5 EStG bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG unberücksichtigt bleibt, ist diese klare und ausdrückliche gesetzliche Regelung für die Kindergeldberechtigten noch rechtssicherer und damit günstiger als die nach dem Senatsurteil in BFHE 273, 462, BStBl II 2022, 58 ansonsten erforderliche verfassungskonforme Auslegung des § 31 Satz 4 EStG.“
Nachfolgend ein Beispiel zur steuerrechtlichen Günstigerprüfung zur Freistellung des Existenzminimums eines Kindes. Hinweis: Die in der Folge genannten Beträge erheben keinen Anspruch auf steuerrechtliche Richtigkeit; sie sollen lediglich vereinfacht das Prinzip der steuerlichen Günstigerprüfung darstellen, wie es im Bereich der Einkommensteuerveranlagung von den Finanzämtern umgesetzt wird.
Aufgrund eines im Juli 2022 gestellten Kindergeldantrages für ein Kind wird Kindergeld rückwirkend ab Januar 2021 festgesetzt, aufgrund er Auszahlungsbeschränkung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG aber nur ab Januar 2022 nachgezahlt.
Die Ehegatten werden im sog. Splittingverfahren gemeinsam zu Einkommensteuer veranlagt. Sie verfügen im Jahr 2021 ohne Berücksichtigung des Kinderfreibetrages (§ 32 Abs. 6 EStG i.H.v. 8.388 €) über ein zu versteuerndes Einkommen (zvE) von 120.000 €; damit würde sich eine tarifliche Einkommensteuer von 32.126 € ergeben.
Das Finanzamt vermindert diesen Betrag im Rahmen der Günstigerprüfung aber um den Kinderfreibetrag auf ein zvE von 111.612 € und damit eine tarifliche Einkommensteuer von 28.622 €. Da Kindergeld für das Jahr 2021 tatsächlich nicht gezahlt wurde, beträgt der Hinzurechnungsbetrag 0 €. Insgesamt zahlt das Ehepaar im Jahr 2021 aufgrund der Berücksichtigung des einen Kindes damit 3.504 € weniger Einkommensteuer (im Übrigen damit sogar mehr als das Kindergeld betragen hätte (12 x 219 € = 2.628 € + 150 € Kinderbonus = 2.778 €).
Wie Variante A, allerdings beträgt das zvE der Ehegatten im Jahr 2021 nur 40.000 €; damit würde sich im Jahr 2021 ohne Berücksichtigung des Kinderfreibetrages (§ 32 Abs. 6 EStG i.H.v. 8.388 €) eine tarifliche Einkommensteuer von 4.532 € ergeben.
Das Finanzamt vermindert diesen Betrag im Rahmen der Günstigerprüfung aber um den Kinderfreibetrag auf ein zvE von 31.612 € und damit eine tarifliche Einkommensteuer von 2.410 €. Da Kindergeld für das Jahr 2021 tatsächlich nicht gezahlt wurde, beträgt der Hinzurechnungsbetrag 0 €. Insgesamt zahlt das Ehepaar im Jahr 2021 aufgrund der Berücksichtigung des einen Kindes damit 2.122 € weniger Einkommensteuer (im Übrigen damit weniger als das Kindergeld betragen hätte (12 x 219 € = 2.628 € + 150 € Kinderbonus = 2.778 €).
In der Kommentierung des Verlages „Kindergeldrecht im öffentlichen Dienst“ befinden sich im Teil III/A.90 unter Rz. 403a ff. umfangreiche Erläuterungen zur Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Zur Systematik des § 31 EStG siehe Teil III/A.0 unter Rz. 89f und 89g.
Klaus Lange
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