Liebe Leserinnen und Leser,
bereits im Blog vom 12.11.2019 habe ich Ihnen berichtet, dass sich im Juni 2019 unter der Moderation des DIN-Instituts ein Konsortium gebildet hat, um Standards für videogestützte Methoden der Personalauswahl (VMP) zu entwickeln. Seit November 2020 sind diese Standards – DIN SPEC 91426:2020-12 „ Qualitätsanforderungen für video-gestützte Methoden der Personalauswahl (VMP)“ – öffentlich und kostenfrei1 zugänglich.
Durch die Corona-Krise hat die Thematik VMP auch im öffentlichen Sektor erheblich an Bedeutung gewonnen. Viele Behörden und Kommunalverwaltungen versuchen nun, Auswahlverfahren unter Nutzung von Systemen wie z. B. Skype, Zoom oder speziellen Videoplattformen durchzuführen. Einige Verwaltungen haben auch schon zeitversetzte Videointerviews eingesetzt (Teubert, 2018) oder überlegen, Videobewerbungen im Rahmen der Vorauswahl zu nutzen. VMP bieten den Vorteil, dass mit ihnen in Corona-Zeiten persönliche Begegnungen vermieden werden können. Darüber hinaus lassen sich mit VMP Auswahlprozesse treffsicherer und kostengünstiger (z. B. Vermeidung von Reisekosten) gestalten.
Beim Einsatz von VMP – so die Initiatorin des Konsortiums Sara Lindemann – herrsche derzeit „Unklarheit und Wildwuchs“ (Lindemann zit. nach Weinberg, 2020). Es brauche im derzeitigen Innovationswandel „verlässlicher Leitplanken“ (Lindemann zit. nach Weinberg, 2020), um Fehler und Diskriminierungen in der Personalauswahl zu vermeiden. Mit der DIN SPEC 91426 stehen nun diese Leitplanken zur Verfügung; sie erleichtern Personalauswählenden den Einsatz von Videointerviews und fördern den Innovationsprozess bei Entwicklern von VMP.
Unter VMP werden gemäß der DIN SPEC 91426 (S. 7), drei Methoden der Personalauswahl gefasst:
Echtzeit-Videointerview – hier werden Bewerbende2 von Auswählenden3 via Skype, Zoom u.ä.m. in Echtzeit interviewt. Echtzeit-Videointerviews können im Auswahlverfahren Präsenz- oder Telefoninterviews ergänzen oder ersetzen und Bestandteil eines Präsenz- oder Fern-Assessment-Centers sein,
Zeitversetztes Videointerview – dabei erhalten die Bewerbenden von den Auswählenden Interviewfragen oder Aufgaben und nehmen sich selbst bei der mündlichen Beantwortung der Fragen auf. Eine Videodatei mit den Antworten wird an die Auswählenden gesandt, die die Antworten zu einem späteren Zeitpunkt auswerten. Zeitversetzte Videointerviews können die Analyse von Bewerbungsunterlagen ergänzen, Teil eines Präsenz- oder Fern-Assessment-Centers sein oder Telefoninterviews ersetzen,
Videobewerbung – hier analysieren Auswählende Videoaufzeichnungen, die die Bewerbenden über sich selbst gefertigt haben. Die Videoaufzeichnungen können eigeninitiativ oder auf Aufforderung der Auswählenden angefertigt worden sein. Die Auswählenden werten die Videobewerbungen anschließend für Zwecke der Personalauswahl aus. Videobewerbungen können z. B. als Ersatz oder Ergänzung für das Motivationsschreiben dienen.
Unter dem Begriff VMP werden auch solche der oben beschriebenen Methoden gefasst, bei denen zur Eignungsbeurteilung der Bewerber Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt.
Bei der DIN SPEC 91426 handelt es sich um einen Konsortialstandard, welche im PAS-Verfahren erarbeitet wurde (DIN SPEC 91426, S. 3). Durch die Initiatorin Sara Lindemann wurde ein Konsortium einberufen, deren Mitglieder Expertinnen und Experten in den Bereichen Eignungsdiagnostik und Künstliche Intelligenz sind. Vertreten waren Wissenschaft und Praxis, der private und der öffentliche Sektor sowie Anwender und Anbieter von VMP:
Das DIN-Institut – Deutschlands zentraler normgebender Institution - stellte im Vorlauf fest, „… dass es sich [bei VMP; Zusatz des Verfassers] um eine relevante Dienstleistung handelt, für die es besonderen Sinn macht, spezifische Qualitätsmaßstäbe zu definieren“ (Ackerschott, 2020). Für Entscheidungen im Konsortium gibt es keine Konsenspflicht. Die Standards wurden durch das Konsortium im Rahmen von Workshops erarbeitet, die im Fall der DIN SPEC 91426 überwiegend online stattfanden. Der gesamte Arbeitsprozess wurde durch das DIN-Institut moderiert; Einfluss auf die Inhalte nahm das DIN-Institut nicht. Es wurde kein Entwurf der DIN SPEC 91426 veröffentlicht (DIN SPEC 91426, S. 3).
Vorteil einer DIN SPEC ist, dass sie im Vergleich zu DIN-Normen schnell durch das DIN-Institut veröffentlicht und damit am Markt implementiert werden kann. Die DIN SPEC 91426 richtet sich an alle Organisationen des privaten und öffentlichen Sektors, die VMP anwenden oder entwickeln und vertreiben wollen. Sie bezieht sowohl auf externe als auch auf interne Stellenbesetzungsverfahren. Auf Grundlage der DIN SPEC 91426 sind Zertifizierungen von VMP und der damit verbundenen Auswahlprozesse möglich (Ackerschott, 2020).
Die DIN SPEC 91426 nimmt ausdrücklich Bezug zur eignungsdiagnostischen Norm DIN 33430:2016-07 (S. 6). Dies bedeutet, dass der Einsatz von VMP neben den Standards der DIN SPEC 91426 auch die Qualitätskriterien der DIN 33430:2016-07 erfüllen muss. Beispielsweise ist auch beim Einsatz von VMP die Durchführung einer Anforderungsanalyse zwingend erforderlich. Weiterhin sind somit auch die Anforderungen an die Qualifikation der am Auswahlprozess beteiligten Personen zu beachten. Die DIN SPEC 91426 (S. 13) verweist zudem auf die internationalen Normen ISO 10667-1 und ISO 10667-2 (Assessment service delivery – Procedures and methods to assess people in work and organizational settings, Part 1 and 2).
Bereits vor dem Einsatz von VMP müssen die technischen Voraussetzungen bei den Bewerbenden getestet werden, damit die Durchführung einer VMP einzelnen Bewerbenden nicht erschwert wird. Die Prüfung muss ohne besonderen Anstoß automatisch vor der Datenerhebung und –verarbeitung erfolgen (DIN SPEC 91426, S. 11). Zu denken ist hierbei z. B. an die Qualität der Internet-Verbindung oder des verwendeten Endgeräts.
Bewerbende sollen zudem mit unterschiedlichen Endgeräten an der VMP teilnehmen können – dies bedeutet in der Praxis, dass beispielsweise wirtschaftlich schwache Bewerbende mit qualitativ niedrigwertigen Endgeräten nicht vom Auswahlprozess ausgeschlossen werden. Sowohl für die Auswählenden als auch für die Bewerbenden ist die Benutzerfreundlichkeit der VMP von Markteinführung empirisch zu überprüfen und nach der Markteinführung „… laufend anhand von Nutzerdaten …“ (DIN SPEC 91426, S. 11) zu bewerten und ggf. zu verbessern. An jeder Stelle der Bedienoberfläche soll eine Hilfe-Funktion zur Verfügung stehen, Fehler bei der Bedienung der Software müssen einfach behoben werden können. Die beiden letzten Regelungen könnten insbesondere ältere oder in der Bedienung von Informations- und Kommunikationstechnik eher unerfahrene Bewerbende vor Benachteiligungen schützen.
Allen Bewerbenden sind Hinweise zur optimalen Verwendung der VMP zu geben, beispielsweise zur Beleuchtung des Raumes oder Gesichts oder zur Optimierung der Aufnahmelautstärke (S. 12). Bewerbende müssen vor dem „Ernstfall“ der Datenaufzeichnung die Gelegenheit haben, die Nutzung der VMP auszuprobieren, zudem muss den Bewerbenden während der üblichen Geschäftszeiten ein technischer Support zur Verfügung stehen (S. 12). Auch bei diesen Regelungen war der Gedanke maßgebend, unerfahrene Bewerbende zu schützen.
Vor Beginn der Datenerhebung ist die datenschutzrechtlich gültige Einwilligung der Bewerbenden zur Datenerhebung und -verarbeitung einzuholen. Die Datenaufzeichnung muss seitens der Bewerbenden jederzeit unterbrochen werden, aufgezeichnete Daten müssen jederzeit gelöscht werden können (S. 12). Dabei sind Bewerbende in verständlicher Weise auf die Folgen der Löschung aufmerksam zu machen.
Auf die eindeutige und verständliche Formulierung von Interviewfragen wird hingewiesen (S. 8). Die Zeit zur Vorbereitung von Antworten und die Antwortzeit selbst ist an die Bedingungen der VMP anzupassen (S. 8 f).
Generell gilt, dass an alle Bewerbenden dieselben Anforderungen zu stellen sind (S. 8). Die Auswertung von erhobenen Daten hat regelbasiert zu erfolgen, „… wobei die Regeln vor der Datenerhebung formuliert werden müssen“ (S. 8). Bei Befolgung dieser Standards können Beurteilungsfehler, die z. B. auf Stereotypen oder Sympathieeffekte gründen, gemindert werden.
Die Sammlung von Informationen durch die Auswählenden, deren Beurteilung im Hinblick auf die einzelnen Eignungsmerkmale sowie die Bildung eines Gesamturteils müssen zeitlich getrennt voneinander erfolgen (S. 9). Beispielsweise wäre es gemäß der DIN SPEC 91426 unzulässig, falls Auswählende während sie sich noch ein Video eines Bewerbenden ansehen bereits eine Bewertung abgeben. Im Regelfall muss die Beurteilung eines Eignungsmerkmals eines Bewerbenden zumindest durch zwei Personen unabhängig voneinander erfolgen (S. 9), in begründeten Ausnahmefällen kann auf das Urteil eines zweiten Auswählenden verzichtet werden, sofern das Eignungsmerkmal der Bewerbenden zusätzlich zum VMP auch mit einem messtheoretisch fundierten Fragebogen oder Test erfasst wird. Das Beurteilungsergebnis eines Auswählenden darf solange für die anderen Auswählenden nicht offenbar werden, bis auch diese ihr Urteil abgegeben haben (S. 9).
Im Zuge der Digitalisierung gewinnen nicht nur VMP in der Personalauswahl an Bedeutung – auch der Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) wird beliebter. Künstliche Intelligenz ist eine Softwaretechnologie, die auch bei Klassifikationsproblemen (z. B.: Ist auf dem Foto Hautkrebs zu erkennen? Ist die Bewerberin geeignet?) Unterstützung bietet. Klassifikationsprobleme werden dabei mit Ansätzen der klassischen Statistik oder mittels der Methode der neuronalen Netze gelöst. Im Gegensatz zur traditionellen Softwaretechnik, bei der der Software-Entwickler genau vorgibt, wie ein Daten-Input zu einem Daten-Output verarbeitet wird, entwickelt die KI die Verknüpfung von Input zum Output überwiegend selbst. Der Software-Entwickler gibt im Wesentlichen nur noch die Rahmenbedingungen (z. B. Input-Daten, Klassifikationskategorien) und die Erfolgsparameter von Klassifikationen vor. Durch diese Vorgehensweise kann vom Software-Entwickler die Logik oder der Sinn der von der KI verwendeten Verknüpfung nicht immer nachvollzogen werden, er oder sie kann nicht mehr genau „erklären“, wie die KI zu einem Klassifikationsergebnis kommt. Künstliche Intelligenz lässt sich nun auch in VMP anwenden. So kann z. B. die Mimik, Gestik, Stimmlage von Bewerbenden mit Künstlicher Intelligenz analysiert werden, um damit zu Eignungsurteilen über Bewerbende zu gelangen.
Zum Schutz der Bewerbenden, zur Gewährleistung einer hohen Qualität der Auswahlergebnisse sowie als Anreiz für die Entwicklung hochwertiger, ethisch vertretbarer KI-Systeme werden in der DIN SPEC 91426 hohe Hürden bei der Anwendung von Künstlicher Intelligenz in VMP aufgestellt. So müssen z. B. den Auswählenden bedeutsame Informationen, wie die KI entwickelt worden ist, zur Verfügung gestellt werden. Hierzu zählen z. B. Informationen zu den Daten, mit denen die KI trainiert und validiert wurde. Auch die Funktionsweise der KI muss benannt werden. Die Anbieter von VMP, die KI-Elemente verwenden, haben zu beschreiben, inwieweit die Input- und Output-Daten vorurteils- und stereotypfrei ausgewählt wurden (S. 10). „Zudem ist zu zeigen, dass der angewendete Algorithmus nachweislich nicht aufgrund von durch die Gesetzgebung oder die Rechtsprechung in besonderer Weise geschützte Merkmale (z. B. ethnische Herkunft, Geschlecht, Gewerkschaftszugehörigkeit, Schwangerschaft) benachteiligt. Dies muss in Testläufen, wie auch im laufenden Betrieb empirisch nachgewiesen werden“ (S. 10).
Durch diese Regelungen kann z. B. folgendes Problem vermieden werden: Bislang gibt es nach Kenntnis des Verfassers in Deutschland keine/n Behördenleiter/in mit dunkler Hautfarbe. Eine KI, die bei der Identifizierung erfolgreicher Behördenleitungen auch die Hautfarbe berücksichtigte, würde zum (Fehl)Schluss kommen „alle erfolgreichen Behördenleitungen haben helle Hautfarbe“. Bewirbt sich nun eine dunkelhäutige Person um eine Behördenleitung, würde die Person aufgrund ihrer Hautfarbe fälschlicherweise als ungeeignet beurteilt werden.
Auch die Bewerbenden müssen informiert werden: So ist diesen anzugeben, welche Daten konkret erhoben und welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen sich daraus ergeben.
Mit der DIN SPEC 91426 erfolgt – hoffentlich noch rechtzeitig – der Versuch, den Einsatz von videobasierten Methoden der Personalauswahl in die richtigen Bahnen zu lenken. Durchgehend ist in dem Konsortialstandard die Absicht zu erkennen, Auswahlprozesse unter Nutzung von VMP so zu gestalten, dass Diskriminierungen von Bewerbenden unterbleiben. Bewerbende sollen die Nutzung ihrer Daten kontrollieren können. Personalauswählende profitieren von der DIN SPEC 91426, weil sie wertvolle Hinweise liefert, wie VMP zweckmäßig in der Praxis eingesetzt werden können. Sie können zukünftig aus der DIN SPEC Kriterien ableiten, mit denen bei angebotenen Software-Tools / VMP die Spreu von Weizen getrennt werden können. Die DIN SPEC steckt den Rahmen für die Entwicklung qualitativ hochwertiger VMP ab, sie erhöht den Innovationsdruck zugunsten ethisch akzeptabler VMP. Anbieter, die bei der Entwicklung ihrer Produkte die DIN SPEC 91426 beachten, werden einen Wettbewerbsvorteil haben.
Herzlichst
Ihr Andreas Gourmelon
Quellen
Ackerschott, H. (2020). HR-Standard Premiere: Videointerviews (Blog von 24.8.2020). https://eignungsdiagnostik.info/hr-standard-premiere-videointerviews (Abruf am 25.11.2020).
DIN SPEC 91426: 2020-12 (2020). Qualitätsanforderungen für video-gestützte Methoden der Personalauswahl (VMP). Berlin: Beuth-Verlag.
Teubert, T. (2018). Videointerviews zwischen Employer Branding und Digitalisierung. In A. Gourmelon (Hrsg.), Personalauswahl – ein Blick in die Zukunft (S. 61 – 74) München: Rehm.
Weinberg, H. (2020). DIN Spec definiert Standards für Video-Recruiting. HRJournal vom 2.11.2020. https://www.hrjournal.de/din-spec-definiert-standards-fuer-video-recruiting/ (Abruf am 25.11.2020)
Gerne können Sie auch unser Kontaktformular benutzen und wir melden uns bei Ihnen.
Kontaktformular