Liebe Leserinnen und Leser,
bereits im Blog vom 1. Mai 2020 wurde das Thema dienstliche Beurteilungen thematisiert. In jenem Blogbeitrag wurden die besondere Rolle dienstlicher Beurteilungen bei Stellenbesetzungsverfahren sowie die Kritik an dienstlichen Beurteilungen kurz dargestellt, auf die ich hier verweise. Schwerpunkt des Beitrags war die Wiedergabe von Studienergebnissen, die Zweifeln an der Vorhersagekraft von Beurteilungsergebnissen in Bezug auf spätere berufliche Leistungen erheblich Vorschub leisten.
Im vorliegenden Beitrag wird eine weitere Studie dargestellt, mit der die Qualität dienstlicher Beurteilungen untersucht worden ist. Laura Lindberg, Absolventin der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, befragte im Frühsommer 2020 46 Erstbeurteiler aus sieben Kommunen zweier Bundesländer. Es wurde erhoben, ob aus Sicht der Beurteiler die mit der dienstlichen Beurteilung angestrebten Ziele tatsächlich erreicht werden, in welchem Ausmaß die Beurteilungsergebnisse die tatsächliche Eignung und fachlichen Leistungen widerspiegeln und welche Faktoren aus Sicht der Beurteiler in welchem Ausmaß zu Verzerrungen führen. Die Befragung wurde online und ohne Erhebung der Namen der Befragten durchgeführt (nachfolgend ausgewählte Ergebnisse).
Für die Stichprobenerhebung sind vorab mehrere Kommunen per E-Mail kontaktiert und um Weiterleitung der Umfrage an die Erstbeurteiler gebeten worden. Insgesamt haben sieben Kommunen den Umfragelink an ausgewählte Erstbeurteiler, innerhalb eines Referates oder ihrer gesamten Kommune weitergeleitet.
Die befragten Erstbeurteiler sind in unterschiedlichen Bereichen der Kommunalverwaltungen tätig, neben der Allgemeinen Verwaltung waren auch die Aufgabenbereiche Finanzen, Recht, Sicherheit und Ordnung, Schule und Kultur, Soziales, Jugend und Gesundheit sowie Bauwesen vertreten.
Die Führungserfahrung der Befragten reicht von einem bis 33 Jahren, der Durchschnittswert beträgt 11,1 Jahre. Die Anzahl der von den Befragten beurteilten Beschäftigten variiert zwischen 2 und 60 Personen, der Mittelwert beträgt 12,1 Beschäftigte.
Unter Verwendung einer vierstufigen Skala (1: „gar nicht“, 2: „kaum/ein wenig“, 3: „überwiegend“, 4: „voll und ganz) konnten die Erstbeurteiler angeben, ob folgende Ziele der dienstlichen Regelbeurteilung realisiert werden (siehe Tabelle 1):
Tabelle 1: Ziele der dienstlichen Regelbeurteilung und deren Erreichungsgrad (nach Daten von Lindberg, 2020, S. 35 - 37).
Ziele der dienstlichen Regelbeurteilung (in der Reihenfolge des Fragebogens) |
Zielerreichung mit „gar nicht“ oder „kaum/ein wenig“ haben geantwortet (in % der Antwortenden) |
A, Gewährleistung der Bestenauslese |
65,4 % |
B, Unterstützung der Personalentwicklung |
67,4 % |
C, Förderung der Motivation der Mitarbeiter/innen |
84,4 % |
D, Ermöglichung eines objektiven Leistungsvergleichs |
82,6 % |
E, Förderung der leistungsorientierten Entgeltfindung |
91,3 % |
Aus Sicht der befragten Erstbeurteiler werden die typischen Ziele der dienstlichen Regelbeurteilung folglich überwiegend nicht erreicht.
Weiterhin wurden die Erstbeurteiler befragt, in welchem Ausmaß die von ihnen erstellten dienstlichen Regelbeurteilungen die tatsächliche Eignung, fachliche Leistung und Befähigung der zu beurteilenden Mitarbeiter/innen widerspiegeln. 39 Befragte beantworteten diese Frage. Auffällig ist die hohe Spannweite der Antworten: sie reicht von 20 % bis 95 %; 23 % der Befragten geben Werte von kleiner oder gleich 60 %, 46 % der Erstbeurteiler geben Werte von größer oder gleich 80% an. Der Mittelwert beträgt 70,3 %.
Für die Beurteilten besteht folglich ein erhebliches Risiko, dass das Beurteilungsergebnis nicht die tatsächliche Eignung, fachliche Leistung und Befähigung widerspiegelt.
Des Weiteren wurden die Erstbeurteiler gebeten einzuschätzen, an welchen Faktoren eine realitätsgerechte Abbildung von Eignung, Leistung und Befähigung scheitert. Hierzu wurden den Befragten zwölf Aussagen vorgegeben, denen sie mittels einer vierstufigen Skala (1: „nein“, 2: „eher nein“, 3: „eher ja“, 4: „ja“ zustimmen oder nicht zustimmen konnten. Mit Tabelle 2 werden die Aussagen und Antworten wiedergegeben.
Tabelle 2: Faktoren, die die Beurteilungsergebnisse nach Ansicht der Erstbeurteiler beeinflussen (nach Daten von Lindberg, 2020, S. 38 - 49).
Aussagen (in der Reihenfolge des Fragebogens) |
mit „eher ja“ oder „ja“ haben geantwortet (in % der Antwortenden) |
1. Meine Persönlichkeit fließt unweigerlich in mein Beurteilungsverhalten ein (z. B. […] Beurteilung anhand Sympathie/Antipathie) |
64,4 % |
2. Mir bleibt nichts anderes übrig als Beurteilungsnoten zu beschönigen, um unliebsame Mitarbeiter/innen „loszuwerden“ oder einem Mitarbeiter / einer Mitarbeiterin bessere Chancen bei Bewerbungen zu ermöglichen |
31,8 % |
3. Ich versuche Konflikte / Auseinandersetzungen mit der zu beurteilenden Person zu vermeiden |
15,6 % |
4. Ich versuche Konflikte / Auseinandersetzungen mit dem / der Zweit- oder Endbeurteiler/in zu vermeiden |
8,9 % |
5. Bei manchen Beschäftigten kann ich mir durch direkte Beobachtungen oder durch Auswertung von Arbeitsergebnissen nicht ausreichend Kenntnisse über Arbeitsverhalten und Leistungen verschaffen (z. B. Teilzeitkräfte, Telearbeit, […] andere Standorte) |
27,3 % |
6. Ich werde bei meiner Beurteilung durch konkrete Richtwerte oder Quotenregelungen eingeschränkt (Formulierungen wie „Nur ein Anteil von 10 % der zu beurteilenden Beschäftigten darf die Bestnote erhalten“) |
71,9 % |
7. Ich werde bei meiner Beurteilung durch Niveauvorgaben eingeschränkt (Formulierungen wie „Die Mitte der Skala soll für den überwiegenden Anteil der zu Beurteilenden als Gesamtnote vergeben werden“) |
64,5 % |
8. Ich bin unweigerlich psychologischen Beurteilungsfehlern ausgesetzt (z. B. Primacy-Effekt […], Nikolaus-Effekt […]) |
37,2 % |
9. Ich werde als Beurteiler/in in Bezug auf das Beurteilungssystem zu wenig geschult |
34,9 % |
10. Es bestehen zu viele Spielräume für den einzelnen Beurteiler / die einzelne Beurteilerin durch unkonkrete Vorgaben des Beurteilungssystems (z. B. Wie sind die Einzelmerkmale im Gesamturteil konkret zu gewichten? Was sind die „Statusanforderungen des jeweiligen Amtes“?) |
42,9 % |
11. Die vorgegebene Bewertungsskala ist zu undifferenziert |
17,1 % |
12. Die im Beurteilungssystem vorgegebenen Kriterien zur Erfassung der Eignung, fachlichen Leistung und Befähigung sind zu oberflächlich, undifferenziert oder unvollständig |
34,2 % |
Stark eingeschränkt wird die realitätsgerechte Beurteilung der Mitarbeiter/innen nach Ansicht der Erstbeurteiler durch Quotenregelungen und Niveauvorgaben (Aussagen Nr. 6 und Nr. 7). Auch andere technische Aspekte von dienstlichen Beurteilungen wie unkonkrete Vorgaben (Aussage Nr. 10), mangelnde Schulung (Aussage Nr. 9), undifferenzierte Kriterien (Aussage Nr. 12) und Bewertungsskalen (Aussage Nr. 11) haben insgesamt große Auswirkungen auf die (nicht-)realitätsgerechte Beurteilung.
Psychologische Faktoren (Aussage Nr. 1 und Nr. 8), die nur schwierig und langfristig beeinflussbar sind, weisen eine hohe Bedeutung auf. Bedenklich ist, dass 31 % der Erstbeurteiler sich genötigt fühlen, Beurteilungsnoten taktisch zu vergeben (Aussage Nr. 2). Auch die Vermeidung von Konflikten ist kein vernachlässigbarer Faktor, der zu einer realitätsverzerrenden Beurteilung führt.
Immerhin 27 % der Erstbeurteiler geben an, dass der Abstand zum Mitarbeiter / zur Mitarbeiterin zu groß ist, um realitätsgerecht beurteilen zu können (Aussage Nr. 5). Dass 27 % der Erstbeurteiler dieser Aussage zustimmen ist insofern bedenkenswert, als vermutlich wohl nur eine Teilgruppe der Befragten „Führen auf Distanz“ betreiben muss. Es kann angenommen werden, dass innerhalb dieser Teilgruppe die Zustimmungsrate deutlich höher ist.
Selbstverständlich wäre es erkenntnisreicher gewesen, wenn die Anzahl der Befragten größer wäre. Dies war angesichts der Corona-Pandemie nicht möglich, da einige Kommunalverwaltungen verständlicherweise in dieser Lage nicht bereit waren, ihre Führungskräfte zusätzlich durch die Mitwirkung in einer Befragungsstudie zu belasten. Sinnvoll wäre es zudem, die Erstbeurteiler nach der Art ihrer Führungsaufgabe (Anzahl der zu Beurteilenden, Ausmaß der Führung auf Distanz), dem Aufgabenbereich sowie dem verwendeten Beurteilungssystem (z. B. gibt es Quotenregelungen?) zu unterscheiden und die Auswertungen jeweils gesondert für die Untergruppen durchzuführen. Damit könnten Faktoren, die zu einer verzerrten Beurteilung führen, noch besser identifiziert werden. Weitere Forschung ist folglich erforderlich.
Trotz dieser Einschränkungen sind die Ergebnisse der Studie von Lindberg aus Sicht des Personalmanagements und vor allem der Beurteilten höchst alarmierend. Gemäß der Einschätzung der Erstbeurteiler sind die Beurteilten einem hohen Risiko ausgesetzt, dass ihre Eignung, fachliche Leistung und Befähigung im Beurteilungsergebnis nicht realitätsgerecht wiedergegeben wird. Die Regelbeurteilung trägt nicht dazu bei, einen objektiven Leistungsvergleich zu gewährleisten oder die Beschäftigten zu motivieren. Nach Ansicht der Erstbeurteiler gibt es eine große Anzahl von Faktoren, die zu einem verzerrten Beurteilungsergebnis führen. Es ist ein großer Verdienst von Lindberg, dass diese Aussagen nach meiner Kenntnis erstmals evidenzbasiert erfolgen können.
Unter Berücksichtigung dieser Evidenz ist die Aussage möglich, dass Stellenbesetzungs- oder Auswahlverfahren, in denen die Eignung, fachliche Leistung und Befähigung der Bewerberinnen und Bewerber ausschließlich mit Ergebnissen von Regelbeurteilungen ermittelt wird, nicht zu einer Bestenauslese führen.
Für die Praxis bedeutet dies: in Stellenbesetzungs- und Auswahlverfahren müssen neben dem Ergebnissen dienstlicher Beurteilungen auch die Ergebnisse anderer eignungsdiagnostischer Verfahren zum Einsatz kommen. Wer die komplette Studie nachlesen möchte, findet sie hier.
Herzlichst
Ihr Andreas Gourmelon
Quelle:
Lindberg, L. (2020). Bewertung dienstlicher Beurteilungen aus Sicht der Beurteiler. Bachelor-Thesis. Gelsenkirchen: Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW, Abteilung Gelsenkirchen.
Zum Thema „Dienstliche Beurteilungen“ lesen Sie auch folgenden Blogbeitrag:
Blog vom 1. Mai 2020: Dienstliche Beurteilungen auf dem Prüfstand
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