Werden Arbeitszeugnisse von Führungskräften richtig interpretiert?

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Eine neue Studie gibt Einblicke in die Nutzung von Arbeitszeugnissen in der Praxis des öffentlichen Sektors. Zudem wurde empirisch geprüft, ob Linienführungskräfte Arbeitszeugnisse richtig interpretieren.

Liebe Leserinnen und Leser,

in Deutschland werden pro Jahr rund 2,6 Millionen Arbeitszeugnisse ausgestellt und wohl zumindest in ähnlichem Ausmaß den Bewerbungsunterlagen beigefügt (Huesmann, 2008, zitiert nach Weuster,  2012, S. 178).  Es kann davon ausgegangen werden, dass Arbeitszeugnisse einen bedeutsamen Einfluss auf die Beurteilung von Bewerbenden haben. Unklar ist, ob Arbeitszeugnisse richtig interpretiert werden und damit zur einer optimalen Bestenauslese beitragen können.

Qualifizierte Arbeitszeugnisse

Arbeitnehmer‘1 haben nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses einen gesetzlichen und/oder tarifvertraglichen Anspruch auf ein Arbeitszeugnis. Bei Beamten‘ ergibt sich der Anspruch z. B. aus § 85 Bundesbeamtengesetz. Das qualifizierte Arbeitszeugnis ist in Papierform auszustellen und enthält u. a. Angaben zur Beschäftigungsdauer, eine ausführliche Tätigkeitsbeschreibung, eine Leistungs- und Verhaltensbeurteilung sowie Schlussformulierungen. Die Aussagen im Arbeitszeugnis müssen einerseits wahr sein (Wahrheitsgrundsatz) andererseits unterliegt der Arbeitgeber‘ der Wohlwollenspflicht, d. h.  die Formulierungen im Zeugnis dürfen die weitere Karriere des Arbeitsnehmers‘ nicht unnötig erschweren. In der Praxis hat sich eine Zeugnissprache entwickelt, mit der versucht wird, negative Bewertungen wohlklingend zu umschreiben.

Probleme von Arbeitszeugnissen

Es gibt in der Praxis Hinweise darauf, dass Zeugnisaussteller‘ in manchen Fällen nicht die Absicht haben, ihre negativen Bewertungen im Zeugnis vollständig wiederzugeben. Ein Beweggrund mag dabei sein, sich möglichst konfliktfrei und wenig aufwendig vom Arbeitnehmer‘ zu trennen. Weiterhin scheint es so zu sein, dass in vielen Fällen der Beurteilte‘ maßgeblich Einfluss auf die Formulierungen im Zeugnis nimmt, indem er z. B. einen Entwurf fertigt. Der Leser‘ von Arbeitszeugnissen kann sich des Weiteren nicht sicher sein, ob der Zeugnisaussteller‘ die Regeln der Zeugnissprache gekannt und auch angewendet hat. Zudem ist auch nicht klar, ob der Leser‘ die Aussagen im Zeugnis richtig interpretiert. An dem letztgenannten Punkt setzt nun eine Studie von Schliecker an.

Methodik der Studie

Schliecker hatte ein fiktives qualifiziertes Arbeitszeugnis erstellt, in dem Bewertungen von verschiedenen Leistungs- und Verhaltensaspekten eines Herrn Max Mustermann nach den Regeln der Zeugnissprache kodiert waren. Insgesamt 33 Linienführungskräfte aus der öffentlichen Verwaltung lasen dieses Zeugnis über Max Mustermann und gaben an, wie sie nach der Lektüre des Zeugnisses den Beurteilten‘ einschätzen. Zudem wurden die Führungskräfte befragt, ob und in welcher Weise sie Arbeitszeugnisse bei der Personalauswahl benutzen. Die Vorgabe des Zeugnisses sowie die Befragung der Linienführungskräfte erfolgte online und anonym.

Verwendung von Arbeitszeugnissen in der Praxis

88 % der befragten Führungskräfte berücksichtigen Arbeitszeugnisse bei der Beurteilung von Bewerbenden, 71 % billigen den qualifizierten Arbeitszeugnissen eine Perspektive in der Personalauswahl zu. Durchschnittlich verwenden die Führungskräfte 23 Minuten für die Analyse eines Arbeitszeugnisses. Zwei der 33 Befragten gaben an, dass sie verbindliche Vorgaben bei der Sichtung von Arbeitszeugnissen verwenden. 54 % der Linienführungskräfte wünschen sich zusätzliche Schulungen oder Unterstützung bei der Analyse von Arbeitszeugnissen. Die Aussagekraft von Arbeitszeugnissen wird auf einer 6er-Skala (1 = sehr aussagekräftig, 6 = niedrige Aussagekraft) im Mittel mit 3,52 eingestuft, die eigene Sicherheit bei der Begutachtung von Arbeitszeugnissen mit 3,27. Bei der Sichtung der Arbeitszeugnisse achten die Linienführungskräfte in abnehmender Bedeutsamkeit auf die folgenden Bereiche: Leistungsbewertung, Tätigkeitsbeschreibung, Gesamtbewertung, Schlussformel, Unternehmensbeschreibung.

Wird das Arbeitszeugnis richtig interpretiert?

Im Arbeitszeugnis wurden per „Zeugnissprache“ zwölf Urteile zu Max Mustermann angegeben. Mit Tabelle 1 wird wiedergegeben, wie die Führungskräfte aufgrund der Lektüre des Arbeitszeugnisses die jeweiligen Personenmerkmale einschätzten.

Tabelle 1: Beurteilung verschiedener Personenmerkmale durch die Linienführungskräfte. Der jeweilige „wahre“ Wert des Personenmerkmals ist fett, kursiv und unterstrichen gedruckt. M: Mittelwert, SD: Standardabweichung, n: Anzahl der Antworten zum jeweiligen Personenmerkmal (nach Daten von Schliecker, 2022).

Bewertung (Note) des Personenmerkmals
durch die Führungskräfte

1

2

3

4

5

6

M

SD

Arbeitsvolumen (n = 31)

6

16

8

1

0

0

2,13

0,75

Qualität (n = 31)

1

21

8

1

0

0

2,29

0,58

Arbeitstempo (n = 31)

3

14

10

4

0

0

2,48

0,84

Arbeitsökonomie (n = 30)

3

18

7

2

0

0

2,27

0,73

Fachkenntnisse (n = 30)

2

15

11

1

1

0

2,47

0,81

Arbeitsbereitschaft (n = 31)

10

17

4

0

0

0

1,81

0,64

Engagement/Motiv. (n = 31)

8

17

6

0

0

0

1,94

0,67

Sozialverhalten (n = 31)

5

13

8

3

2

0

2,48

1,07

Führungsstil (n = 27)

3

9

9

3

2

1

1,81

1,22

Wirkung auf Mitarb. (n = 30)

3

12

11

2

2

0

2,60

0,99

Gesamtbewertung (n = 31)

0

12

18

1

0

0

2,65

0,54

Zukunftswünsche (n =30)

1

13

14

2

0

0

2,57

0,67

Auffällig ist die hohe Streuung der Urteile um den „wahren“ Wert. Beispiel Fachkenntnisse: Mit dem Zeugnis wurde die Note „gut“ ausgedrückt – die Führungskräfte lasen die Noten „sehr gut“ bis „mangelhaft“ aus dem Zeugnis heraus; der Führungsstil wird von den Befragten mit allen Noten von „sehr gut“ bis „ungenügend“ bewertet. Insgesamt haben die Befragten 364 Urteile abgegeben, davon stimmten 159 (also 44 %) mit dem wahren Wert überein.

Mit einer offenen Frage wurde nach Auffälligkeiten im Arbeitszeugnis gefragt. Das fiktive Arbeitszeugnis enthielt einen (rechtlich unzulässigen) Hinweis auf die Gewerkschaftszugehörigkeit von Max Mustermann; diesen Hinweis erkannte nur eine der 33 befragten Linienführungskräfte. Weiterhin wurde das Verhalten von Max Mustermann zu Vorgesetzten im Zeugnis kritisch beschrieben – das erkannten vier der 33 Befragten.

Folgerungen

Arbeitszeugnisse führen bei den Lesern‘ (hier Linienführungskräfte des öffentlichen Sektors) mit einer Wahrscheinlichkeit von 56 % zu Fehlurteilen über die Leistung und das Verhalten des Beurteilten‘. Verdeckte Hinweise des Zeugniserstellers‘ werden mit großer Wahrscheinlichkeit durch den Leser‘ nicht erkannt. Dieselbe Formulierung kann von einem Leser‘ als „sehr gutes“ Werturteil, vom andern als „ungenügendes“ Werturteil gelesen werden. Eine große Mehrheit (88 %) der Befragten nutzen Arbeitszeugnisse in der Personalauswahl und wird das wohl auch in der Zukunft tun. Angesichts der subjektiven Unsicherheit bei der Interpretation von Arbeitszeugnissen, mangelnder Arbeitshilfen, dem Wunsch nach Fortbildungen und vor allem dem hohen Fehlinterpretationsgrad von Arbeitszeugnissen erscheinen folgende Empfehlungen sinnvoll:

  • Linienführungskräfte sollten vom Personalmanagement Arbeitshilfen für die Interpretation von Arbeitszeugnissen erhalten (siehe hierzu z. B. Weuster, 2012, S. 183 ff.),

  • Fortbildungen zum Thema „Interpretation von Arbeitszeugnissen“ sind Linienführungskräften anzubieten,

  • Aussagen in Arbeitszeugnissen zu Leistungen, Fähigkeiten und Verhalten sollten nur im Ausnahmefall (erkennbar schlechte Bewertung) im Rahmen der Vorauswahl von Bewerbenden als Entscheidungshilfe herangezogen werden,

  • Bewertungen, die sich nach der Sichtung der Arbeitszeugnisse ergeben, sollten im Interview überprüft werden.

Standardmäßig sollten während des Interviews auch Fragen zum Zustandekommen des Arbeitszeugnisses gestellt werden (siehe auch Weuster, 2012, S. 185 f.).

Reform des Zeugniswesens erforderlich

Grundsätzlich ist angesichts der Praxisprobleme und der Daten der Studie von Schliecker zu befürchten, dass bei der Verwendung von qualifizierten Arbeitszeugnissen im Rahmen der Personalauswahl in der jetzigen Form der Schaden den Nutzen überwiegt. Es ist eine Reform des Zeugniswesens erforderlich, bei der …

  • … die schwierig zu verwendende und zu interpretierende Zeugnissprache durch die Verwendung von Notenwerten einer eindeutig definierten Notenskala ersetzt wird. Damit würde die Interpretation der Arbeitszeugnisse erheblich vereinfacht, vermutlich ist hier eine Intervention des Gesetzgebers erforderlich,

  • … auf freiwilliger Basis Zeugnisersteller‘ und Beurteilte‘ Arbeitszeugnisse in elektronischer Form verfälschungssicher speichern lassen können. Personalauswählende könnten dann mit Zustimmung der Beteiligten Zugriff auf die Daten erhalten. Durch eine zentrale Speicherung von Zeugnisdaten wären langfristig weitere Interpretationshilfen möglich – z. B. statistisch gewonnene Prozentrangangaben zu einzelnen Beurteilungen von Personenmerkmalen.

Bewahren Sie trotz der ernüchternden Ergebnisse der Studie von Schliecker und der hochsommerlichen Temperaturen einen kühlen Kopf!


Herzlichst

Andreas Gourmelon


1 Mit der Verwendung des Apostroph wird angezeigt, dass mit dem Begriff Menschen jeglichen Geschlechts gemeint sind.


Quellen:

Huesmann, M. (2008). Arbeitszeugnisse aus personalpolitischer Sicht (Dissertation). Wiesbaden.

Schliecker, C. (2022). Zur Objektivität des Einsatzes von qualifizierten Arbeitszeugnissen im Rahmen der Personalauswahl durch Linienführungskräfte (unveröff. Thesisarbeit). Gelsenkirchen: Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW.

Weuster, A. (2012). Personalauswahl I. Wiesbaden: SpringerGabler.

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