Logischerweise birgt das Spannungsfeld um diese Einstufung auch jeweilige Grundlagen für mögliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmen und Überwachungsbehörden. Für die Rechtsauslegung sind dabei folgende Punkte besonders relevant:
Das bereits im EU-Primärrecht verankerte hohe Gesundheitsschutzniveau nach Art. 168 des Arbeitsvertrags über die Europäische Union (AEUV); ebenso entsprechendes Normschutzziel z.B. nach Art. 1 Abs. 1 Lebensmittelbasisverordnung (EG) 178/2002
Mit der kürzlich veröffentlichten Bekanntmachung 2022/C 355/01 der Kommission zur Umsetzung von Risikomanagementsystemen für Lebensmittelsicherheit vom 16.09.2022 wurde das akzeptable Maß einer Gefahr definiert, innerhalb dessen Lebensmittel noch als sicher anzusehen sind.
Vorsorgeprinzip nach Art. 7 vorstehender BasisV, wonach ausnahmsweise bei noch nicht völlig gesicherten wissenschaftlichen Einstufungen vorläufige Schutzmaßnahmen in Frage kommen können mit daraus resultierender besonderer Pflicht zur regelmäßigen behördlichen Verifizierung der Maßnahmen und Grundlagen.
Eine elementare Norm für die beschriebene Abgrenzung von noch sicheren Lebensmitteln gegenüber verzehrsungeeigneten ist der Art. 14 Abs. 2 lit. b) Lebensmittelbasisverordnung (EG) 178/2002. Zur Auslegung einer etwaigen Verzehrsungeeignetheit sind in Art. 14 Abs. 5 verschiedene Tatbestände in Form insbesondere von Fäulnis, Verderb von Lebensmitteln sowie Kontaminationen durch Fremdstoffe oder auf sonstige Weise als Ursachen für eine schließlich maßgebliche Inakzeptanz für den menschlichen Verzehr als finale Endbewertung angeführt. In den Rechtsstreitigkeiten wird dabei oft diskutiert, ob diese beispielhafte Ursachenaufzählung in Art. 14 Abs. 5 vorstehender Norm stringent abschließend ist oder ob eine Auslegung anhand der Normschutzziele über den Wortlaut hinaus zulässig ist. Damit ist häufig die Frage verbunden, ob und inwieweit der Art. 14 Abs. 2 lit. b) Vorrang vor nationalen Normen hat bzw. diese ggf. verdrängt und inwieweit nationale ergänzende Regelungen möglich sind.
In einem derartigen Zusammenhang hat kürzlich der Verwaltungsgerichtshof Österreich dem EuGH eine entsprechende Anfrage vorgelegt, EU 2022/0019-1 (Ro 2021/10/0001) vom 12. Dezember 2022. Dabei geht es darum, ob zum einen Art. 14 Abs. 2 lit. b) und Abs. 5 Verordnung (EG) 178/2002 taugliche Ermächtigung für eine Beanstandung von Nahrungsergänzungsmittel als inakzeptabel für den Verzehr sein kann, wenn der bestimmungsgemäße Lebensmittelverzehr zu einer massiven Überschreitung einer von der EFSA ermittelten zulässigen täglichen Aufnahmemenge (Acceptable Daily Intake - ADI) bzgl. eines Lebensmittelzusatzstoffes führt.
Ein vergleichbares Beispiel wird auch im Praxishandbuch Behebung und Verfolgung von Lebensmittelverstößen, Ludwig/Wieser, 7. Auflage 2022, unter 1.4, S. 15, abgehandelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass Lebensmittel nach Art. 14 Abs. 2 lit. bI als inakzeptabel für den menschlichen Verzehr eingestuft werden können, wenn gemäß Risikobewertung ein intolerables Risiko für einen durchschnittlich empfindsamen Verbraucher gegeben ist und insbesondere das Risiko für den Verbraucher infolge der Aufmachung nicht erkennbar und ihm somit die eigene Entscheidung über die Risikoannahme de facto genommen ist. Eine relativ breite Auslegung der Beanstandungsnorm wird mit Blick auf den auch vom EuGH geprägten Grundsatz des effet utile mit entsprechendem Effektivitätsgebot für Unionsnormen bzgl. der Schutzzwecke für möglich gehalten. Danach wird die Entscheidung des EuGH mit Spannung erwartet.
Mit freundlichen Grüßen
Stephan Ludwig, Veterinäramt Göppingen
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