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Inhalt
1. Kriminelles Vorgehen in fünf Varianten
2. „Nur“ Betrug oder auch strafbarer Missbrauch von Ausweispapieren?
3. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der fünf Fälle
4. Zwei relativ problemlose Rechtsfragen
5. Das gemeinsame Kernproblem der fünf Fälle
6. Die traditionelle Rechtsprechung zum Kernproblem
7. Eine neue Herangehensweise an das Kernproblem
7.1 Besondere Rolle des BGH im System der Strafgerichte
7.2 Diskussion innerhalb des BGH
8. Praktische Konsequenzen für „Tricksereien“ bei Behörden
1. Kriminelles Vorgehen in fünf Varianten
Sie meinen, mit einem echten Ausweis, der ihm gar nicht gehört und deshalb auch nicht sein Bild zeigt, könnte ein Krimineller nichts anfangen? Dann sollten Sie Unterricht beim Bundesgerichtshof (BGH) nehmen! Konkret ging es um einen Täter, dem Betrug in 38 Fällen zur Last gelegt wurde. Bei einem Teil dieser Fälle missbrauchte er Kopien von Ausweisdokumenten. In einem Fall verwendete er außerdem eine gefälschte Meldebestätigung. Doch der Reihe nach.
Zunächst tummelte sich der Angeklagte im Internet auf dem Online-Markt „Uhr Forum“. Dort tat er so, als wolle er Luxusuhren verkaufen. Dabei trat er jeweils unter der Identität einer anderen Person auf. Die Kaufinteressenten brachte er dazu, ihm den Kaufpreis vorab zu überweisen. Die dafür versprochenen Uhren lieferte er nie. Seine Vorgehensweise variierte er dabei so, wie es sich gerade ergab:
Fall Nr. 1
Hier ging es um den angeblichen Verkauf einer Herrenarmbanduhr „Rolex Submariner“. Dabei tat der Angeklagte so, als sei er Herr M. Dem Kaufinteressenten übersandte er im Laufe der Verhandlungen jeweils eine elektronische Bilddatei des Personalausweises des echten Herrn M. Herr M hatte seinen Ausweis einige Monate zuvor verloren. Wie der Angeklagte in den Besitz des Ausweises kam, ließ sich nicht aufklären. Im Vertrauen darauf, dass er es wirklich mit Herrn M zu tun habe, überwies der Kaufinteressent dem Angeklagten nach Vertragsschluss 7.800 €. Die versprochene Uhr erhielt er nie.
Fall Nr. 2
In diesem Fall ging es wieder um den angeblichen Verkauf einer Herrenarmbanduhr „Rolex Submariner“. Dieses Mal übersandte der Angeklagte einem Kaufinteressenten eine elektronische Bilddatei des Personalausweises des echten Herrn S. Diese Bilddatei hatte der echte Herr S dem Angeklagten zwei Monate vorher im Rahmen von Kaufverhandlungen übermittelt. Der Kaufinteressent überwies dem Angeklagten nach Vertragsschluss - in diesem Fall 6.750 €. Auch er erhielt nie die versprochene Uhr.
Fall Nr. 3
Gegenüber einem weiteren Kaufinteressenten trat der Angeklagte wiederum als Herr S auf. Wiederum übersandte er dem Kaufinteressenten eine digitale Lichtbilddatei des Personalausweises des echten Herrn S. Der Kaufinteressent überwies dem Angeklagten nach Vertragsschluss 3.500 €. Auch bei ihm kam die versprochene Herrenarmbanduhr „Rolex Submariner“ nie an.
Nachdem die Betrügereien rund um Luxusuhren so gut funktioniert hatten, machte der Angeklagte mit iPhones weiter. Hier hatte der BGH über zwei Varianten zu entscheiden.
Fall Nr. 4
Der Angeklagte schloss mit der Telekom einen Rahmenvertrag über fünf iPhone X ab. Sie hatten einen Wert von insgesamt 5.749,75 €. Er leistete eine Anzahlung von 999,75 € in bar. Einige Zeit später reichte er fünf Übernahmeverträge ein, durch die sich der rumänische Staatsangehörige C scheinbar bereit erklärte, die Verträge für die fünf iPhone und natürlich die damit verbundenen Zahlungspflichten zu übernehmen.
Die Übernahmeverträge hatte der Angeklagte selbst unterschrieben. Dabei arbeite er die Unterschrift von Herrn C nach. Um die Telekom zu täuschen, legte er die Kopie einer echten rumänischen Identitätskarte des Herrn C vor. Herr C wusste davon selbstverständlich nichts.
Fall Nr. 5
Auch hier ging es um einen Rahmenvertrag über fünf iPhone X, den der Angeklagte mit der Telekom abschloss. Ihr Wert betrug ebenfalls 5.749,75 €. Der Angeklagte leistete eine Anzahlung von 999,75 € in bar.
Kurze Zeit danach reichte der Angeklagte online fünf Übernahmeverträge ein, die angeblich von Herrn Si unterschrieben waren. In Wirklichkeit hatte der Angeklagte die Unterschrift des echten Herrn Si gefälscht. Um die Telekom zu täuschen, übersandte ihr der Angeklagte online eine Bilddatei der echten rumänischen Identitätskarte von Herrn Si und außerdem eine gefälschte Meldebestätigung auf den Namen von Herrn Si.
2. „Nur“ Betrug oder auch strafbarer Missbrauch von Ausweispapieren?
Dass dem Angeklagten in allen geschilderten Fällen Betrug vorzuwerfen war, liegt auf der Hand. Damit hatte sich der BGH deshalb auch gar nicht mehr zu befassen. Thema der Entscheidung des BGH ist vielmehr die Frage, ob dem Angeklagten in allen geschilderten Fällen außerdem noch ein strafbarer „Missbrauch von Ausweispapieren“ vorzuwerfen ist.
Die hierfür einschlägige Regelung des Strafgesetzbuchs (StGB) lautet auszugsweise:
§ 281 Abs. 1 Satz 1 StGB
Missbrauch von Ausweispapieren
Wer ein Ausweispapier, das für einen anderen ausgestellt ist, zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht…, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Ein unbefangener Betrachter wird spontan sagen: Ja natürlich, genau das hat der Angeklagte in allen fünf Fällen gemacht! Er hat ein Ausweispapier genommen, das für einen anderen ausgestellt war, und hat damit einen anderen über seine Identität getäuscht. Das geschah auch im Rechtsverkehr. Denn es ging jeweils um den Abschluss von Verträgen. Und das gehört zum Rechtsverkehr.
3. Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der fünf Fälle
Wo liegt also das Problem? Betrachten wir dazu die fünf Fälle nochmals der Reihe nach:
Fall Nr. 1: Hier hat der Angeklagte den deutschen Personalausweis von Herrn M nicht im Original vorgelegt. Vielmehr hat er diesen Personalausweis offensichtlich eingescannt und dem Kaufinteressenten dann die elektronische Bilddatei mit dem Scan übermittelt.
Fall Nr. 2: Er ähnelt sehr Fall Nr. 1. Der Angeklagte hat die elektronische Bilddatei des deutschen Personalausweises von Herrn S an den Kaufinteressenten übermittelt. Allerdings hat er diese Bilddatei nicht selbst erstellt. Vielmehr hatte er die Bilddatei mit dem Scan des Ausweises vom Ausweisinhaber erhalten.
Fall Nr. 3: Hier ging der Angeklagte genauso vor wie in Fall Nr. 2. Fall Nr. 3 verdient deshalb keine gesonderte Betrachtung.
Fall Nr. 4: Dieser Fall unterscheidet sich in zweierlei Hinsicht von den Fällen Nr. 1 und Nr. 2. Zum einen ging es nicht um einen deutschen Personalausweis, sondern um eine rumänische Identitätskarte. Zum anderen benutzte der Angeklagte keine elektronische Bilddatei mit einem Scan. Vielmehr verwendete er eine Papierkopie der Identitätskarte.
Fall Nr. 5: Er ähnelt ziemlich stark Fall Nr. 4. Denn wiederum geht es um eine rumänische Identitätskarte. Allerdings benutzte der Angeklagte anders als in Fall Nr. 4 keine Papierkopie, sondern eine elektronische Datei mit einem Scan der Identitätskarte. Außerdem verwendete er zusätzlich eine Meldebestätigung. Sie war allerdings nicht von der zuständigen Meldebehörde ausgestellt, sondern eine schlichte Totalfälschung.
4. Zwei relativ problemlose Rechtsfragen
Auf dieser Basis lassen sich zwei Rechtsfragen beantworten, die zwar interessant sind, aber letztlich keine Probleme bereiten:
Frage 1: Erfasst die Formulierung „ein Ausweispapier, dass für einen anderen ausgestellt ist“, nur echte Ausweispapiere oder auch Fälschungen?
Der Wortlaut spricht dafür, dass nur echte Ausweispapiere gemeint sind. Denn falsche Ausweispapiere, die ein Täter gefälscht hat, können nicht von einer Behörde „ausgestellt“ sein.
Damit verdient die Meldebestätigung, die der Angeklagte bei Fall Nr. 5 verwendet hat, keine nähere Betrachtung. Denn diese Meldebestätigung stammt nicht von der zuständigen Behörde. Vielmehr hat der Angeklagte sie selbst hergestellt. Die an sich interessante Frage, ob auch eine solche Meldebestätigung ein Ausweispapier darstellen kann, kann deshalb unbeantwortet bleiben.
Frage 2: Erfasst der Begriff „Ausweispapier“ nur deutsche Ausweispapiere wie etwa den Personalausweis oder auch Ausweispapiere, die Behörden anderer Länder ausgestellt haben?
Die Formulierung spricht generell von einem „Ausweispapier“, ohne dabei irgendeinen Zusatz zu verwenden. Sie stellt nicht darauf ab, ob ein Ausweispapier durch eine deutsche Behörde oder durch die Behörde eines anderen Landes ausgestellt wurde.
Damit ist ein deutscher Personalausweis genauso erfasst wie beispielsweise eine rumänische Identitätskarte. Wichtig ist jeweils nur, dass es sich um ein echtes Dokument handelt, das von der zuständigen Behörde ausgestellt wurde.
5. Das gemeinsame Kernproblem der fünf Fälle
Wenn diese beiden Fragen so klar sind, wo liegt dann das Problem der fünf Fälle? Betrachten wir sie dazu nochmals im Zusammenhang:
Allen fünf Fällen ist gemeinsam, dass der Angeklagte seinen Vertragspartnern nicht das Original eines fremden Ausweispapiers vorgelegt hat. Vielmehr hat er in den Fällen Nr. 1 bis 3 und in Fall Nr. 5 eine elektronische Bilddatei mit einem Scan des jeweiligen Ausweispapiers benutzt. In Fall Nr. 4 hat er eine Papierkopie des Ausweispapiers zur Täuschung seines Geschäftspartners verwendet.
Dies führt zum eigentlichen Problem: Hat der Angeklagte ein Ausweispapier auch dann zur Täuschung im Rechtsverkehr „gebraucht“, wenn er nicht das Original des Ausweispapiers vorgelegt hat, sondern lediglich eine Kopie? Und macht es dabei möglicherweise ein Unterschied, ob er eine elektronische Kopie (also einen Scan als Bilddatei) oder eine Papierkopie vorgelegt hat?
6. Die traditionelle Rechtsprechung zum Kernproblem
Diese scheinbar harmlose Frage ist so brisant, dass sie in zahlreichen juristischen Kommentaren erörtert wird. Noch in der „vorelektronischen Zeit“ hatte sich auch der BGH schon einmal mit ihr befasst. Dies war im Jahr 1964. Damals hat er sich zu dem Problem wie folgt geäußert:
Nur wenn der Täter das Original eines fremden Ausweispapiers vorlegt, hat er dieses Ausweispapier „gebraucht“, um damit im Rechtsverkehr zu täuschen. Die Vorlage einer bloßen Kopie genügt dafür nicht.
Diese Auffassung begründete der BGH damals mit zwei Argumenten:
Würde man diese Rechtsprechung zugrunde legen, wäre dem Angeklagten in keinem der fünf Fälle ein strafbarer Missbrauch von Ausweispapieren vorzuwerfen. Er hätte dann lediglich einen Betrug begangen. Und dies würde im Ergebnis zu einer milderen Strafe führen, wie wenn ihm zusätzlich auch noch ein strafbarer Missbrauch von Ausweispapieren vorzuwerfen wäre.
So lernten es Generationen von Juristen. Denn nahezu die gesamte Fachliteratur zum Strafrecht akzeptierte die geschilderte Rechtsprechung des BGH. Abweichende Meinungen gab es so gut wie nicht mehr.
7. Eine neue Herangehensweise an das Kernproblem
7.1 Besondere Rolle des BGH im System der Strafgerichte
Auch im Strafrecht gilt jedoch der Satz „Neue Köpfe haben neue Ideen“. Dies führte zu einer Diskussion innerhalb des BGH. Ihr Ergebnis: Dem Angeklagten ist sehr wohl in allen fünf Fällen auch ein strafbarer Missbrauch von Ausweispapieren vorzuwerfen. Doch der Reihe nach.
Der BGH ist ein relativ großes Gericht. Er besteht aus einer ganzen Reihe sogenannter „Senate“, die jeweils mit fünf Richtern besetzt sind. Welcher Senat über welche Fälle entscheidet, ist in einem sogenannten Geschäftsverteilungsplan genau festgelegt.
Die BGH-Richter, die 1964 entschieden hatten, bildeten den sogenannten 4. Senat. Sie sind natürlich alle längst hochbetagt im Ruhestand, wenn nicht gar verstorben. Den 4. Senat gibt es aber immer noch. Er ist jetzt lediglich mit anderen Richtern besetzt.
Der Fall des Angeklagten kam allerdings nicht dorthin, sondern zum jetzigen 5. Senat. Dessen Richter sahen die Argumente ihrer Kollegen aus dem Jahr 1964 nicht mehr als überzeugend an. Nach ihrer Auffassung hat sich der Angeklagte in allen fünf Fällen auch wegen des Missbrauchs von Ausweispapieren strafbar gemacht.
Damit ergab sich für den 5. Senat ein formales Problem. Er wollte anders entscheiden als der 4. Senat im Jahr 1964. Das darf er jedoch nicht ohne weiteres tun. Der Grund: Auch, wenn der BGH aus verschiedenen Senaten besteht, muss seine Rechtsprechung nach außen doch einheitlich sein. Schließlich ist er das oberste deutsche Gericht in Strafsachen. Dann kann es nicht sein, dass das Ergebnis „Strafbarkeit ja/nein“ von dem Zufall abhängt, welcher Senat über den jeweiligen Fall zu entscheiden hat.
Deshalb hielt der 5. Senat zunächst in einem förmlichen Beschluss fest, welche Entscheidung er beabsichtigte und begründete dies auch. Diesen Beschluss leitete er allen anderen Senaten des BGH zu, die über Strafsachen entscheiden. Dabei fragte er bei den übrigen „Strafsenaten“ an, ob sie an der bisherigen Rechtsprechung festhalten wollen oder nicht.
7.2 Diskussion innerhalb des BGH
Bei dieser Umfrage erklärte der jetzige 4. Strafsenat, dass er an der Rechtsprechung seiner Vorgänger aus dem Jahr 1964 nicht festhalten möchte, sondern diese Rechtsprechung aufgeben will. Er akzeptierte jedoch nur das Ergebnis des jetzigen 5. Strafsenats, nicht dessen Begründung. Daraus ergibt sich eine interessante Diskussion von Argumenten, die eigentlich eher ins Ausweisrecht als ins Strafrecht gehören:
Der 5. Strafsenat hatte im Kern so argumentiert:
Vertragspartner und andere Personen, mit denen der Täter zu rechtlichen Zwecken in Kontakt tritt, verdienen auch dann Schutz, wenn ein Täter die elektronische Bilddatei eines fremden Ausweises oder die Papierkopie eines fremden Ausweises benutzt und auf diese Weise den anderen über seine Identität täuscht.
Inzwischen ist im Rechtsverkehr ganz weitgehend die elektronische Kommunikation üblich. Bei ihr werden digitale Kopien von Dokumenten ganz alltäglich verwendet. Das gilt gerade auch für die Verwendung von Ausweispapieren.
Auf diese veränderten Verhältnisse hat der Gesetzgeber reagiert, indem er im Passgesetz (§ 18 Abs. 3 PassG) und im Ausweisgesetz (§ 20 Abs. 2 PAuswG) das Ablichten von Pässen und Personalausweisen ausdrücklich erlaubt hat.
Vor diesem Hintergrund „gebraucht“ ein Täter das Ausweispapier einer anderen Person auch dann zur Täuschung, wenn er dabei eine Kopie verwendet (elektronisches Scannen oder Papierkopie).
Der 4. Strafsenat ist zwar mit diesem Ergebnis einverstanden, nicht jedoch mit dieser Begründung. Er argumentiert so:
8. Praktische Konsequenzen für „Tricksereien“ bei Behörden
Für die Arbeit der Pass-, Personalausweis- und Meldebehörden hat die geschilderte neue Rechtsprechung unmittelbare Bedeutung. Das hat folgenden Hintergrund:
Im Übrigen zeigen die Fälle, wie gefährlich es sein kann, Kopien von Ausweisdokumenten unverschlüsselt per Mail zu versenden. Das gilt auch dann, wenn es unter Behörden geschieht. Gar zu schnell „verklickt“ man sich dabei und verwendet eine falsche Mailadresse. Und schon ist die Kopie in Hände gelangt, die damit was auch immer tun können.
9. Quellennachweis
Wer die Überlegungen des Bundesgerichtshofs im Original lesen möchte, kann dies leicht tun. Siehe dazu
Jeder der beiden Beschlüsse ist übrigens deutlich länger als unsere zusammenfassende Schilderung hier im Newsletter. Denn natürlich ist dabei noch viel mehr angesprochen als wir hier erörtern.
Dr. Eugen Ehmann und Matthias Brunner
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