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Die Verordnung über allgemeine Produktsicherheit verbietet inzwischen die Verbindung von Rückrufen mit verharmlosenden Bezeichnungen wie „freiwillig“.

Neben den speziellen Regelungen zu Lebensmitteln ist auch bei unsicheren Produkten nach Verordnung (EU) 2023/988 über allgemeine Produktsicherheit (GPSR) ein Abgabestopp, eine Rücknahme von den gewerbsmäßigen Kunden und unter Umständen auch ein öffentlicher Rückruf gegenüber den Verbrauchern erforderlich. Der Art. 36 GPSR verbietet dabei inzwischen, Rückrufe gegenüber Verbrauchern mit Bezeichnungen wie z. B. „vorsorglich“ oder „freiwillig“ zu verharmlosen. Die Systematik wird im Beitrag näher beleuchtet:

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Ludwig

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I. Sach- und Rechtslage:

Bei unsicheren sowie bereits zu den Verbrauchern gelangten Lebensmitteln kann neben einem Stopp des Inverkehrbringens sowie einer Rücknahme von den gewerbsmäßigen Kunden unter Umständen auch ein Rückruf als öffentliche Warnung erforderlich sein1. Das Lebensmittelrecht ist als lex specialis gemäß Art. 2 Abs. 2 b) von der Verordnung über allgemeine Produktsicherheit (EU) 2023/988 (GPSR) ausgenommen. Gleichwohl sind das Lebensmittelrecht und die Regelungen zur allgemeinen Produktsicherheit vergleichbar. Darauf wird im Folgenden näher eingegangen.

Das EU-Primärrecht und das Lebensmittelrecht haben als primäres Normschutzziel ein hohes Gesundheitsschutzniveau2 und entsprechend legt die GPSR in Art. 1 Abs. 1 ein hohes Verbraucherschutzniveau fest. Diese Normschutzziele sind bedeutende Maßstäbe für die Rechtsauslegung in Einzelfällen.

Früher waren regelmäßig die sogenannten Sorgfaltspflichten bei der Frage maßgeblich, ob jemand zu einem bestimmten Handeln oder Unterlassen verpflichtet ist. Nach den allgemeinen Beschreibungen in der Rechtsliteratur bezeichnen die Sorgfaltspflichten die rechtliche Verpflichtung von Personen oder Organisationen, in bestimmten Situationen eine angemessene und gebotene Sorgfalt hinsichtlich des Handelns oder Nicht-Handelns anzuwenden, um Schäden oder Verletzungen gegenüber Dritten zu verhindern. Bei Missachtung der Sorgfaltspflichten können zivilrechtliche, strafrechtliche oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Konsequenzen drohen. In diesem Zusammenhang war bislang z. B. auch im Tierschutz und im Lebensmittelrecht davon auszugehen, dass die Tierhalter und Lebensmittelunternehmer sich ausreichend über gesetzliche Anforderungen kundig zu machen und die entsprechenden Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten einzuhalten haben. Der Trend der EU- und nationalen Gesetzgebung geht inzwischen dahin, dass die Sorgfaltspflichten konkreter formuliert werden und die gebotene Einhaltung gar zu dokumentieren ist. Mit Bezug auf das Zusammenspiel von unternehmerischem und behördlichem Handeln zur Gewährleistung der primären Normschutzziele lassen z. B. Art. 138 Verordnung (EU) 2017/625 über amtliche Lebensmittelkontrollen und Art. 16 der Marktüberwachungsverordnung 2019/1020 erkennen, dass bei unzureichendem Agieren der Unternehmen die Behörden zur Veranlassung der Unternehmen zum Handeln und ggf. zur Vermeidung von Wiederholungen verpflichtet sind. Falls die Unternehmen weiterhin untätig bleiben, können die zuständigen Behörden ersatzweise handeln, z. B. mittels Realakten oder im Wege der Vollstreckung gemäß Ersatzvornahme und unmittelbarer Zwang. Im Lebensmittelrecht dient der zwischenzeitliche Begriff der Lebensmittelsicherheitskultur ebenso zur ergänzenden Konkretisierung von Sorgfaltspflichten bzgl. z. B. Verantwortlichkeiten, deren Transparenz, regelmäßige interne Prüfungen und ggf. Mangelbehebung seitens der Unternehmen. Das erwähnte im Recht teils grundsätzlich festgelegte gemeinsame Agieren von Unternehmen bzw. Normadressaten mit den Überwachungsbehörden zur Sicherstellung der Normschutzziele kann auch als Kooperation bezeichnet werden. Neben der jüngeren Literatur3 hat der BGH diesen Grundsatz der Kooperation im Urteil vom 19.12.20244 zu einem lebensmittelrechtlichen Rückruf näher beschrieben.

Mit Blick auf die beschriebene Rechtssystematik können unternehmerische Maßnahmen zur Behebung von Rechtsverstößen im Sinne des Verbraucherschutzes grundsätzlich als selbständig o. Ä. bezeichnet werden, wenn im Bereich der Gefahrenabwehr quasi als Überwachung „nur“ eine behördliche Supervision bzw. Verifizierung erforderlich ist. Gleichwohl wurde dabei auch vereinzelt der Sprachgebrauch bzgl. „freiwillig“ verwendet. Eine entsprechende Freiwilligkeit kann mit Bezug auf das Lebensmittelrecht eigentlich nur gegeben sein, wenn Verstöße noch nicht sicher nachgewiesen sind und quasi vorsorglich agiert wird sowie wenn Anforderungen über dem gesetzlichen Mindestniveau erfüllt werden. Ansonsten kann die Bezeichnung solcher Maßnahmen als „freiwillig“ missverständlich bzw. falsch sein5.

Mit ähnlicher Zielrichtung verbietet Art. 36 GPSR Abs. 2 c) inzwischen in Rückrufanzeigen die Verbindung einer Gefahr mit verharmlosenden Begriffen wie „freiwillig“, „vorsorglich“, „im Ermessen“, „in seltenen Situationen“ oder in „spezifischen Situationen“.

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II. Ergebnis und Fazit

Nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsverfahrensrechts6 ist behördliches Handeln grundsätzlich auf die Prüfung und ggf. den Erlass von Verwaltungsakten als formelle rechtsmittelfähige Entscheidungen ausgerichtet. Gleichwohl sind Verwaltungsverfahren nicht an bestimmte Formen gebunden und einfach, zweckmäßig sowie zügig durchzuführen7. Folglich kann eine Behörde auch im Zuge des schlichten Verwaltungshandelns agieren. Dies kann im Ordnungsrecht damit einhergehen, dass jedenfalls bei bloß geringfügigen Verstößen auch eine Anhörung bzw. Aufforderung zur Mangelbehebung gegenüber einem Adressaten ausreichend sein kann. Falls dies in Zusammenhang mit Verstößen als „freiwillige“ Maßnahme eingestuft wird, ist dies gemäß vorstehenden Erläuterungen bereits nicht ganz richtig, da eigentlich eine Verpflichtung zur Behebung von Rechtsverstößen besteht. Dies wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die Behörden selbst nach dem Wortlaut vorerwähnter Ermächtigungen regelmäßig kein Entschließungsermessen haben und folglich auch für eine Behebung geringfügiger Verstöße zu sorgen haben. Bei geringfügigen Verstößen werden die Begrifflichkeiten jedoch regelmäßig wenig problematisch sein.

Andererseits sind in der Verwaltungspraxis jedoch Fälle bekannt, wonach Behörden die Adressaten bzw. Unternehmen zu einem „freiwilligen“ Handeln „drängen“ wollen, um vermeintlich einer eigenen Haftung oder Ähnlichem zu entgehen. Dies kann unter Umständen dazu führen, dass der Vorwurf einer Umgehung der Rechtswegegarantie8 und schlimmstenfalls einer Nötigung durch das Kontrollpersonal im Raum stehen kann. Vor diesem Hintergrund sind die Abgrenzung von schlichtem Verwaltungshandeln gegenüber z. B. einem Verwaltungsakt mit dem spezifischen Regelungsmerkmal9 bedeutend. Das behördliche Handeln sollte auch nach den Grundsätzen des BVerfG zur Bestimmtheit auf eine entsprechende Transparenz ausgerichtet sein, damit Anordnungen und zugehörige Rechtsbehelfsmöglichkeiten klar erkennbar sind. Vor diesem Hintergrund wird auch bei der Ausbildung von Kontrollpersonal hervorgehoben, dass schlichtes Verwaltungshandeln wie beispielsweise auch Anhörungen noch ohne Regelungscharakter zu einem relativ unverbindlichen Meinungsaustausch beitragen können und dass bei mangelnder Bereitschaft zur Behebung von Verstößen die Unternehmen jedoch erforderlichenfalls formell zur Normeinhaltung zu bewegen sind. Die erforderliche Transparenz des behördlichen Vorgehens trägt damit auch der verfassungsrechtlichen Rechtswegegarantie10 Rechnung.

Auch vor diesem Hintergrund sind die neuen Regelungen im Produktsicherheitsrecht nachvollziehbar, wonach im Vokabular gegenüber den Verbrauchern bedeutende Verbraucherschutzmaßnahmen nicht im Zuge eines entsprechenden Sprachgebrauchs verharmlost werden dürfen.

Stephan Ludwig
Landratsamt Göppingen, Lebensmittelüberwachung

Weiterführende Links:

Das schlichte Verwaltungshandeln in Verbindung mit der Problematik des Begriffs „freiwillig“ wird auch abgehandelt in Kapitel 3.1 des Praxishandbuchs „Behebung und Verfolgung von Lebensmittelverstößen, 8. Auflage 2024.

Die Tatbestände und Umsetzung von lebensmittelrechtlichen Rückrufen sind auch abgehandelt in Kapitel 3.15 des Praxishandbuchs „Behebung und Verfolgung von Lebensmittelverstößen, 8. Auflage 2024.


1 Siehe Rechtsfolgen bzgl. Art. 14, 10 und 19 Lebensmittelbasisverordnung (EG) Nr. 178/2002 in Verbindung mit der polizeilichen Generalermächtigung in Art. 138 Verordnung (EU) 2017/625 über amtliche Kontrollen sowie § 40 Abs. 1 LFGB
2 Vgl. Sosnitza/Meisterernst/Ludwig V (EG) 178/2002 Art. 11 Rn. 1-3 sowie Sosnitza/Meisterernst/Ludwig EG-Lebensmittel-Basisverordnung Art. 50 Rn. 1-10 und 37
3 Siehe Sosnitza/Meisterernst/Ludwig EG-Lebensmittel-Basisverordnung Art. 50 Rn. 23 bzgl. „3. Zusammenwirken von Unternehmen und Überwachung bzgl. Lebensmittelsicherheit“ sowie Praxishandbuch „Behebung und Verfolgung von Lebensmittelverstößen“, Ludwig, 8. Auflage 2024, Kapitel „17 Kooperation von Unternehmen und Behörden“
4 Urteil BGH vom 19. Dezember 2024 – III ZR 24/23
5 vgl. Rundschau für Fleischhygiene und Lebensmittelüberwachung, Ludwig, 3/2010, S. 148.
6 Vgl. § 9 LVwVfG B.-W.
7 Siehe § 10 LVwVfG
8 Art. 19 Abs. 4 GG
9 § 35 LVwVfG
10 Art. 19 Abs. 4 GG

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