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Hilfen für Langzeitarbeitslose - Interview mit Andrea Nahles

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Bundesarbeitsministerin Nahles will Langzeitarbeitslosen so individuell wie möglich helfen. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) erläuterte sie, welche Programme sie plant, um Arbeitslose ohne Berufsabschluss oder mit schlechten Chancen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Das Interview im Wortlaut:

SZ: Deutschland wird weltweit geachtet für sein Beschäftigungswunder. Das geht aber seit 2010 an den Langzeitarbeitslosen vorbei. Deren Zahl liegt seitdem stabil bei etwas über einer Million. Hat die Politik diese Menschen im Stich gelassen?


Nahles: Das kann man so nicht sagen. Einerseits ist nach den Reformen am Arbeitsmarkt die Zahl der Langzeitarbeitslosen um ein Drittel heruntergegangen. Das Rezept des Förderns und Forderns hat also gewirkt. Andererseits sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem sich nicht mehr viel bewegt. Wir haben zu lange geglaubt, allein durch die gute Konjunktur alle in Arbeit bringen zu können.

SZ: Inzwischen ist sogar jeder Dritte aller Jobsuchenden länger als ein Jahr arbeitslos. Woran liegt das?

Nahles: Das Problem ist, dass es sich um keine homogene Gruppe handelt. Wir haben viele Menschen mit ganz speziellen Vermittlungshemmnissen, da helfen nur ebenso spezifische Ansätze – hier setzt unser Konzept an. Es gibt die, die gering qualifiziert oder über 55 Jahre alt oder alleinerziehend sind. Hinzu kommen häufig auch erhebliche gesundheitliche Probleme. Wenn dann mehrere dieser Faktoren und womöglich noch Sprachdefizite zusammenkommen, verfestigt sich Langzeitarbeitslosigkeit.

SZ: Glauben Sie wirklich, dagegen etwas tun zu können?

Nahles: Davon bin ich überzeugt. Jeder hat eine Chance verdient. Ich lebe ja mit meiner Familie auf einem Dorf. Dort gibt es einen Mann, der ist schwer krank und hat die Aufgabe vom Bürgermeister bekommen, sich um die Grünanlagen zu kümmern. Der ist mit Eifer dabei, der genießt das, dass er noch gebraucht wird. Wir sollten uns als Gesellschaft einig sein, dass wir keinen dieser Menschen abschreiben.

SZ: Arbeitsmarktforscher sagen, je individueller ein Arbeitsloser betreut wird, desto besser sind seine Jobchancen. Das ist in vielen Jobcentern aber gar nicht möglich. Können Sie das überhaupt ändern?

Nahles: Ja, ich kann die Jobcenter personell unterstützen. Wir wollen deshalb die Erfahrung, die wir mit der Vermittlung von älteren Arbeitslosen beim Bundesprogramm „Perspektive 50plus“ gemacht haben, für die Langzeitarbeitslosen nutzen. Dafür gab es etwa 1000 meist befristete Stellen. Da das Programm ausläuft, wollen wir diese Kapazitäten und Expertise jetzt nahtlos im Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit einsetzen.

SZ: Hat der Finanzminister dafür schon das Geld genehmigt?

Nahles: Ja, es gibt die klare Absicht, das zu tun. Es geht hier um erfahrene Fachleute in der Vermittlung, deren Auftrag in Zukunft ausgeweitet wird. Wir wollen bei dieser Betreuungsoffensive auf die bestehenden sogenannten Aktivierungszentren zurückgreifen und auf diesen Erfahrungen aufbauen, um Langzeitarbeitslose besser ins Visier nehmen zu können.

SZ: Was haben Sie noch vor?

Nahles: Wir legen ein Bundesprogramm auf, um Langzeitarbeitslose, die ohne Berufsabschluss und schon Jahre ohne Arbeit sind, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Bundesagentur für Arbeit zahlt dabei bis zum 18. Monat bis zu 75 Prozent des Lohns. Für das Programm stehen 885 Millionen Euro zur Verfügung, wovon etwa 470 Millionen aus dem Europäischen Sozialfonds, also aus EU-Mitteln, kommen. Wir wollen dabei bis 2019 etwa 33.000 Menschen fördern. Das Programm soll im ersten Quartal 2015 anlaufen.

SZ: Was soll daran neu sein? Lohnkostenzuschüsse gibt es doch schon lange.

Nahles: Ja, aber wir haben lernen müssen, dass viele Langzeitarbeitslose ihre Arbeit nach einigen Monaten abgebrochen haben. Deshalb stellen wir ihnen jetzt einen Coach zur Seite, der sie beim Einstieg ins Berufsleben eng begleitet. Modellversuche zeigen, dass das der Schlüssel sein kann, um den Verbleib in der Arbeit zu sichern. Wir denken außerdem daran, den Neustart ins Berufsleben in Stufen von zum Beispiel zwei, vier oder sechs Stunden pro Tag zu erleichtern, damit die Leute nicht gleich vor Acht-Stunden-Tagen stehen, sondern schrittweise wieder zurückfinden in den Arbeitsalltag.

SZ: Meinen Sie wirklich, es gibt genug Betriebe, die sich darauf einlassen?

Nahles: Sicher, es ist nicht leicht, die Betriebe zu finden, aber es gibt sie. Ich streite auch nicht ab, dass Menschen nach Jahren der Arbeitslosigkeit Motivationsschwächen haben. Aber deswegen sagen wir ja den Arbeitgebern: Gebt ihnen eine Chance, und wir helfen dabei mit enger Begleitung und Unterstützung durch einen Coach.

SZ: Wollen Sie auch die öffentlich geförderte Beschäftigung wie Ein-Euro-Jobs wieder stärker ausbauen?

Nahles: Ja, wir wollen auch ein neues Programm auflegen für Arbeitslose, die auf dem ersten Arbeitsmarkt erst mal keine guten Chancen haben. Das ist eine ganz spezielle Gruppe. Hier geht es zunächst darum, soziale Teilhabe zu ermöglichen – in sinnvollen Tätigkeiten. Dabei geht es aber nicht um Ein-Euro-Jobs, sondern um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, für die es Lohnkostenzuschüsse von bis zu 100 Prozent geben kann. Diese Menschen sollen lernen, durch eine Arbeit wieder eine Struktur in ihren Alltag zu bekommen. Wir denken dabei gerade an Eltern, die für ihre Kinder ein Vorbild sein sollten.

SZ: An was für Tätigkeiten denken Sie dabei?

Nahles: Es darf dabei nicht darum gehen, kleinen Handwerksbetrieben die Arbeit wegzunehmen. Es muss sich, so wie dies jetzt schon geregelt ist, um eine zusätzliche Arbeit handeln. Wir werden mit den Ländern über deren Vorschläge beraten, wie ein praktikableres Verfahren zur Feststellung der Zusätzlichkeit aussehen kann. Ich bin jedenfalls überzeugt, dass es Arbeit genug gibt.

SZ: Und wo zum Beispiel bitte?

Nahles: Andernach hat sich zum Beispiel zur „essbaren Stadt“ umgewandelt. In den Gartenanlagen, wo normalerweise nur die pflegeleichten japanischen Krüppelkoniferen wachsen, haben Arbeitslose Wirsing, Tomaten und Salatköpfe gepflanzt; da kann sich nun jeder bedienen. Die Stadt hat damit bundesweit Aufsehen erregt.

SZ: Haben Sie keine Sorge, dass Sie mit so einem Programm die Wende rückwärts antreten? Kritiker nennen so etwas „arbeitsferne Parallelwelten“.

Nahles: Diese Kritik kommt aus einer Zeit, als mit fragwürdigen AB-Maßnahmen nach der Wende viel Geld verballert wurde. Hier geht es jedoch um Menschen, die weit davon entfernt sind, eine realistische Chance auf eine Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu haben. Wir müssen diese Leute dort abholen, wo sie stehen. Das ist mein moralischer Anspruch.

SZ: Was soll das Programm kosten?

Nahles: Vorgesehen sind 150 Millionen Euro pro Jahr. In der zweiten Jahreshälfte 2015 soll es losgehen.

SZ: Müssen Sie nicht ziemlich kleine Brötchen backen, weil der Finanzminister unbedingt keine neuen Schulden mehr machen will?

Nahles: Nein, wenn wir das umsetzen, was wir hier auf den Tisch legen, ist das ein großer Schritt.

SZ: Werden Sie dieses Programm zusammen mit den geplanten Vereinfachungen im Hartz-IV-Recht auflegen?

Nahles: Das ist noch offen, aber bietet sich an. Es ist unstrittig, dass wir im Hartz-IV-System zu viele unterschiedliche Einzelregeln haben, die Mitarbeiter ablenken und binden. Leider führt dies zu Fehlern, die nicht nötig sind. Wir haben zu viele Gerichtsurteile gegen Jobcenter, auch zu viele, die wir verlieren. Ziel muss es sein, die Leute da einzusetzen, wo sie wirklich gebraucht werden, also in der Ansprache, in der Vermittlung, in der Unterstützung.

SZ: Sie gelten als besonders emsige Ministerin – zum Ärger der Wirtschaftsverbände. Die werfen Ihnen vor, Sie würden den Unternehmen schaden, und die hätten es am liebsten, dass die Kanzlerin Sie an die kurze Leine nimmt. Beeindruckt Sie das?

Nahles: Nein, ich empfehle einen Blick in den Koalitionsvertrag. Der ist Grundlage meiner politischen Arbeit. Dabei bleibt es auch im kommenden Jahr, wenn wir zum Beispiel den Missbrauch von Werkverträgen angehen. Wirtschaftliche Stärke braucht Leistungsfähigkeit, und die gibt es nur mit sozialem Frieden. Wir sollten aufhören, da Gegensätze zu konstruieren. Ich werde weiter emsig sein.


Das Gespräch führte Thomas Öchsner für die Süddeutsche Zeitung.


Quelle: Internetinformation der Bundesregierung vom 5.11.2014


Bernhard Faber
Richter am Arbeitsgericht Augsburg a. D.

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