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Der Fall Egenberger geht in die nächste Runde – Entscheidung des BVerfG zum kirchlichen Arbeitsrecht

In seiner Entscheidung vom 29.9.2025 – 2 BvR 934/19 hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen ein kirchlicher Arbeitgeber für eine konkret zu besetzende Stelle die Mitgliedschaft in der Kirche verlangen darf und inwieweit die staatlichen Gerichte dies im Hinblick auf das religiöse Selbstbestimmungsrecht überprüfen können. Dr. Wolfgang Spree, Geschäftsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, erläutert umfassend den Fall, das bisherige Verfahren und die Entscheidung des Gerichts.

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BVerfG vom 29.9.2025 – 2 BvR 934/19

Hintergrund

In den vergangenen Jahren kam es verstärkt zu Diskussionen und rechtlichen Streitigkeiten über das Verhältnis zwischen dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und dem Antidiskriminierungsrecht. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Fall Egenberger, der die komplexen Wechselwirkungen zwischen nationalem Verfassungsrecht und europäischem Recht aufzeigt. Insbesondere die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), des Bundesarbeitsgerichts (BAG) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verdeutlichen die Herausforderungen, die sich in der Praxis aus dem Miteinander von kirchlichem Selbstbestimmungsrecht und staatlichen Antidiskriminierungsvorgaben ergeben.

Insoweit maßgeblich zu klären waren für das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 29.9.2025 die unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Auslegung von § 9 Abs. 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dieser ermöglicht in Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 UAbs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlungsrichtlinie) einem kirchlichen Arbeitgeber eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion eines Stellenbewerbers bei der Beschäftigung, sofern eine bestimmte Religion „unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft (…) im Hinblick auf ihr Selbstbestimmungsrecht oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt“.

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Der Fall

Im Jahr 2012 bewarb sich Vera Egenberger, eine konfessionslose Sozialpädagogin, auf eine Projektstelle bei der Diakonie. Es handelte sich dabei um eine Referentenstelle für ein Projekt, das die Erstellung des Parallelberichts zum UN-Übereinkommen zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung zum Gegenstand hatte. Die dafür verlangte Kirchenmitgliedschaft hatte sie nicht und klagte wegen einer Benachteiligung aus religiösen Gründen.

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Bisheriges Verfahren

Das BAG legte den Fall wegen des Bezugs zur EU-Antidiskriminierungsrichtlinie dem EuGH vor, der bereits im Jahr 2018 feststellte, dass kirchliche Autonomie gegen das Recht der Arbeitnehmer, nicht wegen ihrer Religion diskriminiert zu werden, abgewogen werden müsse. Die Kirchen würden demnach ihren Entscheidungen der gerichtlichen Kontrolle zumindest in Hinblick auf die Kriterien „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" unterliegen. Die Kontrolle der Einhaltung der in Art. 4 Abs. 2 Gleichbehandlungsrichtlinie festgelegten Kriterien liefe ins Leere, wenn sie in Zweifelsfällen keiner unabhängigen Stelle wie einem staatlichen Gericht obläge. Auf der Basis dieser Entscheidung verwies das BAG auf die Notwendigkeit der Überprüfung kirchlicher Entscheidungen durch gerichtliche Instanzen und sprach Vera Egenberger eine Entschädigung von knapp 4000 Euro zu.

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Entscheidung des BVerfG

Das BVerfG hob die Entscheidung des BAG auf und verwies den Fall zurück. Kritisiert wird die Prüfung, inwieweit die Kirchenmitgliedschaft „wesentlich“ für die ausgeschriebene Stelle war. Je größer die Bedeutung der ausgeschriebenen Stelle „für die religiöse Identität der Religionsgemeinschaft nach innen oder außen ist“, desto eher könne eine Kirchenmitgliedschaft verlangt werden.

Das BVerfG betonte in seiner am 23.10.2025 veröffentlichten Entscheidung, dass das religiöse Selbstbestimmungsrecht zwar den allgemeinen gesetzlichen Schranken – und damit auch dem hier relevanten Regelungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) – unterliege. Zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen sei das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen mit dem Schutz vor Benachteiligung nach dem AGG in Ausgleich zu bringen. Dabei hält das BVerfG grundsätzlich an der zweistufigen Prüfung fest. Diese zweistufige Prüfung wird in der Entscheidung konkretisiert: Zunächst sei zu prüfen, ob es sich überhaupt um eine religiöse Angelegenheit handele, es also einen objektiven Zusammenhang zwischen der Kirchenzugehörigkeit und der beruflichen Tätigkeit gibt, und welche Bedeutung dieser Angelegenheit nach dem Selbstverständnis der Kirchen zukommt. Im zweiten Prüfungsschritt wird dann die Gesamtabwägung zwischen den Interessen und Belangen der Arbeitnehmerin und dem religiösen Selbstbestimmungsrecht vorgenommen. Je stärker das religiöse Ethos einer Stelle ist, desto mehr Gewicht erhält das Selbstbestimmungsrecht.

Das BVerfG hob in seiner Entscheidung die Wichtigkeit der kirchlichen Selbstbestimmung hervor, die in Art. 4 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 140 GG sowie Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV („Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.“) verankert ist. Trotz der Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts und der Vorgaben des EuGH, die eine Kontrolle der kirchlichen Anforderungen auf ihre Wesentlichkeit, Rechtmäßigkeit und Rechtfertigung fordern, hob das BVerfG hervor, dass nationale Gerichte Spielräume bei der Abwägung dieser Rechte haben und diese ausnutzen müssten. Beurteilungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde seien die Grundrechte des Grundgesetzes. Das BVerfG prüft innerstaatliches Recht und dessen Anwendung grundsätzlich auch dann am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, wenn es im Anwendungsbereich des Unionsrechts liegt, durch dieses aber nicht vollständig determiniert ist.

Der Schutzbereich des religiösen Selbstbestimmungsrechts war in dem Verfahren eröffnet, da das streitige Einstellungskriterium „Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag“ vom Gewährleistungsumfang des Selbstbestimmungsrechts umfasst war. Gemäß der Pressemitteilung des BVerfG vom 23.10.2025 erfährt die in der zweiten Stufe der Prüfung erfolgende Gesamtabwägung der betroffenen rechtlichen Belange eine Konturierung dahingehend, „dass die in Rede stehende berufliche Anforderung im Hinblick auf die konkrete Tätigkeit für die Wahrung des religiösen Selbstverständnisses geeignet, erforderlich und angemessen im engeren Sinn, mithin verhältnismäßig sein muss. Dies lässt es weiterhin zu, dem religiösen Selbstverständnis aufgrund seiner Nähe zum vorbehaltlos gewährten Recht auf korporative Religionsfreiheit ein besonderes Gewicht beizumessen. Je größer die Bedeutung der betroffenen Position für die religiöse Identität der Religionsgemeinschaft nach innen oder außen, desto mehr Gewicht besitzt der von der Kirche in Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts vorgetragene Belang und ein daraus abgeleitetes Erfordernis der Kirchenmitgliedschaft. Je weniger Relevanz die jeweilige Position für die Verwirklichung des religiösen Ethos hat, desto eher wird dem Diskriminierungsschutz der Vorzug zu geben sein. Dessen hoher verfassungsrechtlicher Bedeutung ist bei der Abwägung durch die Gerichte Rechnung zu tragen.“

Das BVerfG führt in seinem Beschluss aus, dass bei dem vorzunehmenden Ausgleich [den das BAG nun vorzunehmen hat] zwischen den Belangen religiöser Arbeitgeber und der Arbeitnehmer das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union aus dem Vorlageverfahren gem. den eben gemachten Ausführungen zu berücksichtigen sei.

Die Ausführungen des BVerfG werden in zahlreichen Publikationen als Stärkung des kirchlichen Arbeitsrechts bewertet (so u. a. tagesschau.de und tagesspiegel.de, jeweils vom 23.10.2025), während die Gewerkschaft ver.di in der Entscheidung klare Grenzen für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht sieht (Pressemitteilung der ver.di vom 23.10.2025).

Der Fall zeigt, wie schwierig es ist, nationale und europäische Standards in Einklang zu bringen, insbesondere wenn es um sensible Themen der Religionsfreiheit und des Antidiskriminierungsrechts geht. Der Spagat zwischen diesen beiden Bereichen bleibt ein herausforderndes Terrain. Während das BVerfG betont, dass die zusätzlichen Freiheiten der Kirchen notwendig sind, um ihre religiöse Identität zu bewahren, bleibt die Kritik, dass hierdurch das Gleichheitsgebot des AGG untergraben könnte. Zusammenfassend ist die Entscheidung des BVerfG ein Beispiel für die komplexe Rechtslage im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts.

Die Diakonie hat bereits am 8.12.2023 die Anforderungen an Mitarbeitende bei der Begründung des Arbeitsverhältnisses gelockert. Das Erfordernis der Mitgliedschaft von Mitarbeitenden in einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland, einer Kirche der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland oder der Vereinigung Evangelischer Freikirchen bestimmt sich demnach nach der Art der Tätigkeit und den Umständen ihrer Ausübung. Für Tätigkeiten in der Verkündigung, der Seelsorge, der evangelischen Bildung oder in besonderer Verantwortlichkeit für das evangelische Profil wird die Mitgliedschaft in einer solchen Kirche vorausgesetzt. In weiteren Fällen kann aufgrund der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine Kirchenmitgliedschaft ebenfalls erforderlich sein. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Tätigkeit mit einer Verantwortung für die evangelische oder christliche Profilierung der Dienststelle oder Einrichtung oder einer glaubwürdigen Vertretung nach außen verbunden ist oder die Umstände ihrer Ausübung dies unter Beachtung der Größe der Dienststelle oder Einrichtung und ihrer sonstigen Mitarbeiterschaft sowie des jeweiligen Umfelds erforderlich machen.

Dr. Wolfgang Spree
Geschäftsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände

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