Das BAG beschäftigt sich in diesem Urteil mit den auf Art. 140 GG iVm. Art. 137 Abs. 3 WRV gestützten Arbeitsvertragsrichtlinien und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 05.10.2023 – 6 AZR 308/22
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Der Fall
Die Klägerin ist in einer kirchlichen Einrichtung beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft vertraglicher Bezugnahme die Arbeitsvertragsrichtlinien der Diakonie Deutschland (AVR-DD) Anwendung. Die Regelungen zur Stufenzuordnung nach Höher- und Herabgruppierung finden sich in § 16 AVR-DD. Zum 1. Juli 2020 wurde statt der bis dahin geltenden betragsbezogenen Höhergruppierung eine stufengleiche Höhergruppierung eingeführt. Die Stufenzuordnung nach Herabgruppierung erfolgt seitdem ebenfalls stufengleich und unter Mitnahme der angebrochenen Stufenlaufzeit. Die AVR-DD unterscheiden bei der Stufenzuordnung zwischen der Einarbeitungsstufe, der Basisstufe und den Erfahrungsstufen 1 bis 3. Die Klägerin war bei der Beklagten zunächst als Fachkraft im Pflege- und Betreuungsdienst tätig und als solche zuletzt in der Entgeltgruppe 7, Erfahrungsstufe 2, eingruppiert. Von 2016 bis 2021 war sie als Bereichskoordinatorin in der Entgeltgruppe 9 eingruppiert. Im Zeitpunkt ihrer Höhergruppierung galt noch die betragsbezogene Stufenzuordnung, so dass sie in der Entgeltgruppe 9 zunächst der Basisstufe, seit April 2020 der Erfahrungsstufe 1 zugeordnet war. Seit dem 15. März 2021 wurde sie auf eigenen Wunsch wieder als Fachkraft im Pflege- und Betreuungsdienst beschäftigt und darum in die Entgeltgruppe 7 herabgruppiert. Dort wurde sie stufengleich der Erfahrungsstufe 1 zugeordnet. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Zuordnung zur Erfahrungsstufe 3. Sie war der Ansicht, auch die Zeit, in der sie von 2016 bis 2021 schon einmal in der Entgeltgruppe 7 beschäftigt gewesen sei, müsse bei der erneuten Stufenzuordnung in dieser Entgeltgruppe berücksichtigt werden.

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Die Entscheidung des Gerichts
Die Klage hatte keinen Erfolg. Bei einer Herabgruppierung nach § 16 Abs. 2 AVR-DD in der seit Juli 2020 geltenden Fassung wird nur die in der höheren Entgeltgruppe erworbene Stufe nebst der „angebrochenen“ Stufenlaufzeit mitgenommen.

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1. Prüfungsmaßstab
Die AVR-DD sind auf dem sog. „Dritten Weg“ zustande gekommen. Sie sind also nicht wie Tarifverträge zwischen zwei Tarifvertragsparteien ausgehandelt und ggf. mit den Mitteln des Arbeitskampfrechts erzwungen worden. Vielmehr sind sie in einer paritätisch mit Vertretern der Dienstnehmer- und Dienstgeberseite besetzten Arbeitsrechtlichen Kommission gefunden worden. Die Möglichkeit des Streiks besteht nicht. Kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) sind Allgemeine Geschäfts-bedingungen (AGB). Dabei spielt keine Rolle, dass sie – anders als „klassische“ AGB – vom kirchlichen Dienstgeber nicht selbst vorformuliert werden können, sondern dieser kirchenrechtlich verpflichtet ist, die AVR im Arbeitsvertrag in Bezug zu nehmen. Allerdings sind kirchliche AVR keine „normalen“ AGBs, sondern AGBs besonderer Art, für die deshalb eigenständige Maßstäbe bei ihrer Auslegung und Inhaltskontrolle gelten müssen. Der Dritte Weg und die auf diesem Weg zustande gekommenen Regelungen sind durch die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts durch Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung verfassungsrechtlich geschützt. Die AVR-DD sind deshalb „verfassungsrechtlich verdichtete AGBs“. Darum sind sie nicht abstrakt-generell wie AGBs auszulegen und sind auch keiner uneingeschränkten Inhaltskontrolle am Maßstab der §§ 305 ff. BGB zu unterziehen. Sie sind also insbesondere nicht auf ihre Transparenz (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB) oder darauf zu überprüfen, ob sie überraschend sind (§ 305c BGB) oder zu einer unangemessenen Benachteiligung des Dienstnehmers führen (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Vielmehr wird ihr Regelungsgehalt nach ihrem Wortlaut, ihrer Systematik und dem erkennbar gewordenen Willen der Arbeitsrechtlichen Kommission ermittelt. Eine ergänzende Auslegung kommt nur in Betracht, wenn keine bewusste Regelungslücke vorliegt und nur eine einzige Art der Lückenschließung möglich ist, der Arbeitsrechtlichen Kommission also bei der Schließung der unbewussten Lücke keinerlei Spielraum verbleibt. Mit dem so ermittelten Inhalt werden Arbeitsvertragsrichtlinien von den staatlichen Gerichten nur darauf kontrolliert, ob sie mit höherrangigem Recht, also insbesondere dem Grundgesetz und dem einfachen Gesetzesrecht, und den guten Sitten vereinbar sind. Sie bleiben aber AGBs und sind daher in anderen Regelungszusammenhängen nicht wie Tarifverträge zu behandeln.

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2. Regelungsgehalt des § 16 Abs. 2 AVR-DD
Nach Wortlaut und Systematik der Bestimmung wird nach einer Herabgruppierung nur die Stufe und die darin zurückgelegte „angebrochene“ Stufenlaufzeit in die neue Entgeltgruppe mitgenommen, der der Dienstnehmer unmittelbar vor seiner Herabgruppierung zugeordnet war. Das war im Fall der Klägerin die Erfahrungsstufe 1 in der Entgeltgruppe 9. Da keine planwidrige Lücke erkennbar war, schied auch eine ergänzende Auslegung des § 16 Abs. 2 AVR-DD dahin, dass auch die früher in der Entgeltgruppe 7 gesammelte Erfahrungszeit nach der Herabgruppierung in diese Entgeltgruppe berücksichtigt werden muss, aus.
Karin Spelge
Vorsitzende Richterin am BAG
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