Unter welchen Voraussetzungen der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit trotz Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kündigen kann.
Liebe Leserin, lieber Leser,
heute darf ich Ihnen eine taufrische Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 8.7.2924, Az. 15 SLa 127/24 vorstellen. Das Gericht hat sich insbesondere mit der Frage beschäftigt, unter welchen Voraussetzungen der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung tatsächlich erschüttert ist bzw. welche tatsächlichen Umstände die Arbeitnehmerin bzw. der Arbeitnehmer vortragen muss, um den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wiederherzustellen. Der ganze Fall war zudem eingekleidet in eine von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung.
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Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die im Jahr 1963 geborene Klägerin war seit dem 1.12.2007 bei der beklagten Samtgemeinde (eine Samtgemeinde ist ein freiwilliger Zusammenschluss der Mitgliedsgemeinden, der zur Stärkung der Verwaltungskraft getätigt werden kann) als Sekretärin in der Verlässlichen Grundschule G als Teilzeitkraft beschäftigt. Der Arbeitsvertrag enthält eine dynamische Bezugnahmeklausel, die unter anderem auf den TVöD in der jeweils geltend Fassung verweist.
Am 7.9.2022 teilte die Schulleiterin der Klägerin mit, dass zu Beginn der niedersächsischen Sommerferien am 6.7.2023 und an den darauffolgenden Tagen Urlaub nicht gewährt werden könne. Gleichwohl bestand die Klägerin darauf, am 6.7.2023 Urlaub zu bekommen. Die Beklagte lehnte dies ab.
Am 5.7.2023 teilte die Klägerin der Schulleiterin mit, dass sie voraussichtlich an einer Magen-Darm-Grippe erkrankt sei. Anschließend legte die Klägerin für die Zeit vom 5.7.2023 bis zum 7.7.2023 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihrer Ärztin vor. Ausweislich der Bescheinigung wurde die Arbeitsunfähigkeit am 5.7.2023 ärztlicherseits festgestellt.
Trotz der attestierten Arbeitsunfähigkeit nahm die Klägerin am 6.7.2023 an einem Trainer-Lizenz-Lehrgang (C-Lizenz) bei der Landesturnschule M teil. Mit Schreiben vom 7.7.2023 hörte die Beklagte die Klägerin wegen des Verdachts der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit an. Mit Schreiben vom 10.7.2023 verwies die Klägerin darauf, dass nach der Einnahme der von ihrem Arzt verschriebenen Medikamente sich ihr Gesundheitszustand umgehend verbessert habe. Sie gehe daher davon aus, dass die Symptome teilweise psychosomatisch waren.
Nach ordnungsgemäßer Anhörung des Personalrats kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 18.7.2023 das Arbeitsverhältnis sowohl als Tat- als auch vorsorglich als Verdachtskündigung außerordentlich fristlos. Sowohl das Arbeitsgericht Osnabrück als auch das Landesarbeitsgericht Niedersachsen wiesen die Kündigungsschutzklage ab.

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Das sind die wesentlichen Entscheidungsgründe:
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Für die Kündigung bestehe ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB, da die Klägerin die Arbeitsunfähigkeit vom 5.7. bis zum 7.7.2023 vorgetäuscht habe.
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Der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit werde in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt.
Hinweis! Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu (vgl. die Gesetzesbegründung zur Einführung der elektronischen „Krankmeldung“ in BT-Drs. 19/13 S. 37).
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Der Arbeitgeber könne den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung der Arbeitnehmerin/des Arbeitnehmers geben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zu kommt.
Hinweis! Im dem hier zu entscheidenden Fall ergaben sich bereits Zweifel an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 5.7.2023, weil diese für einen Zeitraum ausgestellt worden ist, für den die Klägerin unstreitig zuvor Urlaub begehrt hat. Diese wurden durch die Tatsache verstärkt, dass die Klägerin am 6.7.2023, wie von ihr beabsichtigt, an dem Lehrgang bei der Landesturnschule M. teilgenommen hat.
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Da der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert gewesen sei, hätte die Klägerin im Rahmen der Ihr obliegenden sekundären Beweislast zu den Ursachen ihrer Erkrankung eindeutig vortragen müssen. Da der Vortrag diesen Anforderungen nicht genügte, sei die ausgesprochene außerordentliche Kündigung im Ergebnis gerechtfertigt gewesen.

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Fazit für Sie!
- Legen Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer eine ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, so können Sie grundsätzlich davon ausgehen, dass diese auch tatsächlich erkrankt sind.
- Der hohe Beweiswert einer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann nur bei Vorliegen ganz bestimmter Umstände im Einzelfall erschüttert sein.
- Ist der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert, obliegt es der Arbeitsnehmerin/dem Arbeitnehmer nachzuweisen, dass sie/er tatsächlich erkrankt war.
Herzliche Grüße
Ihr
Boris Hoffmann
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