Unter welchen Umständen des Einzelfalls Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet sein können.
Liebe Leserin, lieber Leser,
im meinem Zweiten Blog im Jahr 2025 wende ich mich einer Thematik zu, die das Bundesarbeitsgericht in der Vergangenheit bereits mehrfach beschäftigt hat. Es geht im Kern um die Frage, wann ernsthafte Zweifel am Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet sein können. In der Vergangenheit ging es im Wesentlichen um Fälle, bei denen sich die Kündigungsfrist und die Dauer einer nach Ausspruch der Kündigung ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zeitlich deckten.1 Die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes2 beschäftigte sich nun mit einem anderen Aspekt. Insoweit ging es um den Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
TVöD/TV-L PRO
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Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Kläger ist seit 2002 als Lagerarbeiter bei der Beklagten mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt von zuletzt 3.612,94 Euro beschäftigt. In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er der Beklagten im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub verschiedene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.
Vom 22.8. bis zum 9.9.2022 hatte der Kläger Urlaub, den er in Tunesien verbrachte. Mit E-Mail vom 7.9.2022 teilte er der Beklagten mit, dass er bis zum 30.9.2022 durchgehend krankgeschrieben sei. Im Anhang der E-Mail befand sich ein Attest eines tunesischen Arztes vom 7.9.2022. Dieser bescheinigte in französischer Sprache, dass er den Kläger untersucht habe. Dieser leide an „schweren Ischialbeschwerden” im engen Lendenwirbelsäulenkanal, so dass er 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.9.2022 benötige. Er dürfe sich daher während dieser Zeit nicht bewegen oder reisen. Einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Kläger am 8.9.2022 ein Fährticket für den 29.9.2022 und reiste an diesem Tag mit seinem PKW zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Anschließend legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4.10.2022 vor, in der dieser dem Kläger eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 8.10.2022 bescheinigte.
Nachdem die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hatte, dass es sich ihrer Auffassung nach bei dem Attest vom 7.9.2022 nicht um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung handele, legte der Kläger eine weitere Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17.10.2022 vor, in der der Arzt die Arbeitsunfähigkeit sowie ein Reiseverbot für 24 Tage attestierte. Nachdem die Beklagte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall abgelehnt hatte, erhob der Kläger Klage bei Arbeitsgericht München. Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts gab der Beklagten letztendlich Recht.

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Das sind die wesentlichen Entscheidungsgründe des Gerichts:
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Grundsätzlich komme einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der Europäischen Union ausgestellt worden sei, der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zu.
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Dies setze allerdings voraus, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden habe.
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Den Beweiswert einer AU-Bescheinigung, die das grundsätzlich gesetzlich vorgesehene Beweismittel zum Nachweis einer Arbeitsunfähigkeit ist, könne der Arbeitgeber erschüttern, wenn er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit geben. Insoweit bedürfe es einer Gesamtwürdigung aller tatsächlichen Umstände.
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Bei der Gesamtabwägung sei Folgendes zu berücksichtigen:
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Der tunesische Arzt habe dem Kläger für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen.
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Der Kläger buchte bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich bis zum 30.9.2022 zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29.9.2022 und trat an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland an.
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Zudem habe der Kläger bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt.
In einer Gesamtschau begründen diese einzelnen Gegebenheiten ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Dies habe zur Folge, dass nunmehr der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trägt. Da dieser dem nicht gerecht wurde, war die Klage abzuweisen.

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Fazit für Sie!
Gelingt es Ihnen, den Beweiswert der ärztlichen AU-Bescheinigung zu erschüttern, ist es Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Erforderlich hierzu ist ein fundierter Vortrag etwa zu folgenden Punkten:
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Welche Krankheiten haben vorgelegen?
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Welche gesundheitlichen Einschränkungen haben bestanden?
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Welche Auswirkungen haben die gesundheitlichen Einschränkungen auf die Arbeitsfähigkeit im konkreten Arbeitsverhältnis?
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Welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente wurden ärztlich verordnet und wurden diese eingenommen?
Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern können, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben.
Herzliche Grüße
Ihr Boris Hoffmann
1 Vgl. etwa BAG 13.12.2023 - 5 AZR 137/23 = AP Nr. 13 zu § 5 EntgeltFG.
2 BAG 15.1.2025 – 5 AZR 284/24.
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