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Beschluss OVG Lüneburg vom 11.02.2025 zur Chargenvermutung sowie Vorsorgeprinzip und Widerlegung

Ein einzelnes Tiefkühllebensmittel Hähnchennugget wurde wegen eines vorgefundenen Kunststoffstückes als unsicher beanstandet. Bei der folgenden Prüfung hat die Überwachungsbehörde eine Unsicherheit der Charge angenommen und daher vom Unternehmen auch einen Rückruf gefordert. Das Unternehmen hat erwidert, dass eine Betroffenheit der Charge nicht wahrscheinlich und ein Rückruf daher unverhältnismäßig sei. Das OVG hat die sogenannte Chargenvermutung nach Art. 14 Abs. 6 BasisVO gehalten, weil das Unternehmen die Sicherheit der übrigen Charge nicht ausreichend nachweisen konnte.

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I. Sachverhalt:

Ein einzelnes Tiefkühllebensmittel Hähnchennugget wurde wegen eines scharfkantigen Plastiksplitters als unsicher und gesundheitsschädlich gemäß Art. 14 Abs. 2 a) BasisVO (EG) Nr. 178/2002 beanstandet. Im Rahmen der ergänzend erforderlichen Prüfungen von weiteren Verbraucherschutzmaßnahmen nach Art. 19 BasisVO ist die Überwachungsbehörde von einer Unsicherheit der gesamten Charge nach der Regelvermutung in Art. 14 Abs. 6 BasisVO ausgegangen. Demnach hat die Behörde das Unternehmen mit Bescheid vom 05.12.2024 zu einem Rückruf aufgefordert. Das Unternehmen hat die Unsicherheit der Charge bestritten und Rechtsbehelf gegen den Bescheid eingelegt sowie um einstweiligen Rechtsschutz vor dem VG Lüneburg ersucht. Das VG Lüneburg hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.

Darauf hat das Unternehmen Beschwerde gegen den Beschluss des VG eingelegt und weiterhin eine Sicherheit der Charge geltend gemacht. Dafür wurden mit Bezug auf den unbestimmten Rechtsbegriff einer „eingehenden Prüfung“ und zur Widerlegung der Chargenvermutung nach Art. 14 Abs. 6 BasisVO mehrere Gründe vorgetragen. Zum einen könne zur Widerlegung der Chargenvermutung kein Vollbeweis verlangt werden, sondern sei im Hinblick auf die Vielzahl an vorstellbaren Lebenssachverhalten eine Einzelfallbewertung vorzunehmen und eine hohe Wahrscheinlichkeit wäre ausreichend. Der Fremdkörper hätte zudem der Produktionsstätte nicht zugeordnet werden können und sei als Randstück und nicht etwa als zersplittertes Mittelstück einzuordnen. Ein vom Unternehmen eingeholtes Gutachten gehe von einem Einzelfall aus und widerlege die Chargenvermutung. Die Charge sei zudem ausverkauft und weitere Beschwerden nicht bekannt. Ferner bestünden erhebliche Zweifel an der Authentizität der Verbraucherbeschwerde. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Verbraucher den Fremdkörper nicht herausgegeben habe.

Dementgegen sieht das OVG wie auch zuvor das VG die Chargenvermutung als gegeben an. Neben dem deutschen Normwortlaut spreche auch die englische Fassung „shall be pressumed“ sowie die französische „il est presume´“ dafür, dass es sich bei Art. 14 Abs. 6 BasisVO um eine echte Vermutung handelt. Diese Schlussfolgerung bzw. Rechtsfolge entfalle nur, wenn gemäß Art. 14 Abs. 6 zweiter Satzteil bei einer folgenden eingehenden Prüfung ein Nachweis für die Sicherheit erbracht wird. Folglich wäre gemäß auch den Ausführungen des VG ein voller Beweis erforderlich und nicht die vom Unternehmen geltend gemachte hohe Wahrscheinlichkeit. Dies ergebe sich ebenso aus dem Vorsorgeprinzip nach Art. 7 BasisVO. Die Beweislast obliege dem Unternehmen.

Ferner richten sich die Anforderungen an eine „eingehende Prüfung“ nach dem Einzelfall, so zum Beispiel nach einer statistischen Untersuchung weiterer Produkte derselben Charge. Die Untersuchungen und Argumentationen des Unternehmens mit dem Ergebnis einer nicht aufgeklärten Herkunft der Kontamination wären nicht ausreichend für die Schlussfolgerung bzgl. einer Sicherheit der übrigen Teile der Charge. Das OVG führt auch an, dass das Unternehmen einen Versuch von Rückholungen von Erzeugnissen zum Zweck der statistischen Untersuchung nicht wahrgenommen hat. Der vom Unternehmen geltend gemachte Abverkauf der Ware sei auch nicht maßgeblich im Hinblick auf das Mindesthaltbarkeitsdatum des Tiefkühllebensmittel. Der vom Gericht aufgezeigte Maßstab führe auch nicht dazu, dass die Chargenvermutung quasi unwiderlegbar wäre.

Demnach hat das OVG mit Beschluss vom 11.02.2025 -13 ME 247/24- die Beschwerde gegen den Beschluss des VG zurückgewiesen.

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II. Ergebnis und Fazit

Der Beschluss des OVG verdeutlicht die Anwendung der Chargenvermutung und die Anforderungen an eine Widerlegung im Sinne von Art. 14 Abs. 6 BasisVO. Für die Verwirklichung der Vermutung bzw. Rechtsfolge ist ein konkreter Nachweis eines unsicheren Lebensmittels erforderlich. Vor diesem Hintergrund ist eine Beweislastumkehr mit der Folge eines erforderlichen Vollbeweises für den möglichen Fall einer Sicherheit der übrigen Charge schlüssig. Das OVG relativiert gleichwohl die weitreichende Auslegung der Norm in Richtung Verbraucherschutz mit dem Hinweis, dass der für den Einzelfall angelegte Maßstab nicht zu einer Unwiderlegbarkeit der Chargenvermutung führt. Diesbezüglich steht es den Unternehmen frei, bei größeren Chargen einen statistisch relevanten Anteil für etwaige Folgeuntersuchungen zurückzuhalten.

Zusammenfassend zeigt die Entscheidung die Bedeutung von objektiven Risikobewertungen für einen effektiven Verbraucherschutz und das kürzlich auch vom BGH im Urteil vom 19.12.2024 -III ZR 24/23- hervorgehobene lebensmittelrechtliche Kooperationsprinzip von Unternehmen und Behörden auf. Die Überwachungsbehörden werden weiterhin bei den Einzelfällen bzw. Risikoanalysen die Möglichkeit von sogenannten Ausreißern bzw. eine Vermeidbarkeit von Rückrufen ohnehin auch von Amts wegen prüfen, da ein überzogener bzw. unverhältnismäßiger Verbraucherschutz auf Dauer ebenso Nachteile mit sich bringen würde. Vor diesem Hintergrund war der vorliegende Fall insofern komplex als dass er im Grenzbereich zur Notwendigkeit eines Rückrufs war. Die Behörden- und Gerichtsentscheidungen machen dabei deutlich, dass ein Rückruf im Ergebnis und aus Verbraucherschutzgründen erforderlich war.

Stephan Ludwig
Landratsamt Göppingen, Lebensmittelüberwachung

Weiterführende Links:

Die Anforderungen an die Chargenvermutung hat zuvor bereits das OVG Bautzen mit Beschluss vom 05.10.2023 konkretisiert und dies wurde mit einem vorausgehenden Newsletter kommentiert.

Die Tatbestände und Umsetzung von lebensmittelrechtlichen Rückrufen sind auch abgehandelt in Kapitel 3.15 des Praxishandbuchs „Behebung und Verfolgung von Lebensmittelverstößen, 8. Auflage 2024.

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1 Kommentar zu diesem Beitrag
kommentiert am 27.03.2025 um 14:04

Dies ist eine desaströse Entwicklung für ide Lebensmittelverarbeiter. Wenn dieses Urteil standhält werden alle Produzennten beginnen Mikrochargen zu produzieren oder niemand Produziert mehr im EU-Raum.
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