Bei der Würdigung von Umständen, die Zweifel an einer von einem Arzt bescheinigten Arbeitsunfähigkeit begründen, muss eine Gesamtwürdigung stattfinden. Dabei kann auch erst das Zusammentreffen von mehreren ungewöhnlichen Umständen (die isoliert betrachtet sogar unverfänglich sind) in der Gesamtschau ernsthafte Zweifel am Beweiswert der AU-Bescheinigung auslösen. Zweifel an der Richtigkeit einer AU-Bescheinigung können sich z. B. daraus ergeben, dass ein Beschäftigter in der Vergangenheit bereits mehrfach Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit Urlaub geltend gemacht hat.
BAG vom 15.1.2025 – 5 AZR 284/24
Der Fall
Ein seit vielen Jahren als Lagermitarbeiter beschäftigter Mitarbeiter legte seinem Arbeitgeber in den Jahren 2017, 2019 und 2020 dreimal im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.
Auch in der Zeit vom 22.8. bis zum 9.9.2022 befand der Beschäftigte sich im Urlaub (in Tunesien). Zwei Tage vor Ende des Urlaubs am 7.9.2022 teilte er seinem Arbeitgeber mit, dass er bis zum 30.9.2022 „krankgeschrieben und arbeitsunfähig“ sei. Beigefügt war ein ärztliches Attest vom selben Tag in französischer Sprache. Dieses in Tunesien ausgestellte Attest bescheinigte dem Beschäftigten, dass er an „schweren Ischialbeschwerden“ im engen „Lendenwirbelkanal“ leide und er deshalb 24 Tage strenge häusliche Ruhe bis zum 30.9.2022 benötige und dass er sich während dieser Zeit nicht bewegen und nicht reisen dürfe.
Bereits einen Tag nach dem Arztbesuch buchte der Beschäftigte ein Fährticket für den 29.9.2022 und reiste an diesem Tag mit Pkw und Fähre ca. 30 Stunden nach Deutschland zurück. Danach legte er dem Arbeitgeber eine Erstbescheinigung eines an seinem Wohnort in Deutschland niedergelassenen Facharztes für Orthopädie vom 4.10.2022 vor, in der Arbeitsunfähigkeit bis zum 8.10.2022 bescheinigt wurde.
Der Arbeitgeber verweigerte die Entgeltfortzahlung, weil er erhebliche Zweifel an der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit hatte. Daraufhin machte der Beschäftigte die Entgeltfortzahlung bis 30.9.2022 gerichtlich geltend.

Blog Arbeits- Tarif- und Personalvertretungrecht
Prof. Dr. Boris Hoffmann und Dr. Erik Schmid
Unsere Experten bereiten für Sie Informatives zu aktuellen Fällen anschaulich auf, schildern den Sachverhalt, beleuchten die Entscheidung und liefern ein Fazit inkl. Praxistipp für Ihre tägliche Arbeit.
Die Entscheidung
Das BAG gab dem Arbeitgeber Recht und stellte fest, dass hier ernsthafte Zweifel am Beweiswert der in Tunesien ausgestellten AU- Bescheinigung vorlägen. Es verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht München zurück. Das LAG werde – so das BAG – zu klären haben, ob der Beschäftigte das tatsächliche Bestehen von Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum vom 7.9. bis 30.9.2022 auch ohne das angegriffene ärztliche Attest darlegen und beweisen könne.
Denn grundsätzlich habe der Beschäftigte zu beweisen, dass ihm aufgrund von Arbeitsunfähigkeit ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zustehe. Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit werde dabei in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Dabei komme einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der EU ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert zu wie einer in Deutschland ausgestellten AU-Bescheinigung. Dennoch könne der Arbeitgeber den Beweiswert einer vorgelegten AU-Bescheinigung erschüttern. Voraussetzung sei, dass aufgrund tatsächlicher Umstände in ihrer Gesamtwürdigung ernsthafte Zweifel an der sachlichen Richtigkeit des ärztlichen Attests bestünden.
Im entschiedenen Fall sei dem Arbeitgeber nach Auffassung des BAG die Erschütterung des Beweiswerts der vorgelegten AU-Bescheinigung gelungen. Zum einen übersteige die Dauer der Krankschreibung (für 24 Tage) die in Deutschland vorgesehene regelmäßige Höchstdauer von zwei Wochen ohne hierzu erklärende Ausführungen oder einen Termin für eine Wiedervorstellung zu enthalten. Stattdessen beinhalte die Bescheinigung eine kategorische Verhaltensanordnung, nämlich das Verbot sich zu bewegen und zu reisen, das bis zum letzten Tag der Krankschreibung, also bis zum 30.9.2022 gelte. Trotz dieser Verhaltensanweisung buchte der Beschäftige bereits einen Tag nach seinem Arztbesuch ein Fährticket für den 29.9.2022 und damit für einen Tag, der noch innerhalb des Bewegungs- und Reiseverbots-Zeitraums lag. Dies sei – so stellte das BAG fest – im Anbetracht der Schwere der attestierten Erkrankung zumindest überraschend. Hinzu komme, dass der Arbeitnehmer in den Jahren 2017 bis 2020 bereits drei weitere Male im unmittelbaren Anschluss an seinen Erholungsurlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt habe.
Die Würdigung dieser ungewöhnlichen Umstände in ihrer Gesamtschau begründe ernsthafte Zweifel am Beweiswert der ausgestellten ärztlichen Bescheinigung. Dies führe dazu, dass der Beschäftigte nun seinerseits beweisen müsse, dass er am Ende seines Urlaubs bis zu 30.9.2022 tatsächlich arbeitsunfähig gewesen sei. Nur wenn ihm dies gelänge, stünde ihm ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu.

Beste Antworten.
Newsletter Arbeits- und Tarifrecht
Regelmäßig erscheinender Newsletter zu den Neuigkeiten aus den Bereichen Arbeitsrecht und Tarifrecht des öffentlichen Dienstes sowie Empfehlungen zu neuen Produkten, Webinaren und Quizzen.
Das bedeutet die Entscheidung für Sie
Das BAG stärkt mit dieser Entscheidung die Rechte des Arbeitgebers und konkretisiert die Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswerts ärztlicher Atteste.
Zunächst arbeitet der 5. Senat heraus, dass eine AU-Bescheinigung keine gesetzliche Vermutung begründe, dass tatsächlich Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe. Demnach müsse der Arbeitgeber nicht beweisen, dass der Beschäftigte im streitgegenständlichen Zeitraum in Wirklichkeit arbeitsfähig war. Es genüge, wenn er ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit darlegen könne. Dabei sei im Blick zu behalten, dass an den Vortrag des Arbeitgebers zur Erschütterung des Beweiswerts keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen, weil der Arbeitgeber nur über eingeschränkte Erkenntnismöglichkeiten verfüge.

Für mehr Wissen.
Fortbildungen im Arbeits- und Tarifrecht
Profitieren Sie von unseren neuen informativen und praxisorientierten eLearning-Fortbildungen im rehm Campus. Lernen Sie zeitlich flexibel und ortsunabhängig. Erleben Sie Fortbildung neu!
Hinweis für die Praxis
Werden Beschäftigte wiederholt im Zusammenhang mit einem gewährten Erholungsurlaub krank, lohnt es sich aus Arbeitgebersicht, diese Fälle genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Beweiswert einer AU-Bescheinigung kann erschüttert werden.
Näheres dazu lesen Sie in Breier/Dassau TVöD PLUS Aktuelles sowie TVöD Kommentar § 22 TVöD Erl. 7, § 22 TV-L Erl. 7 und § 26 TVöD Erl. 5.13.1.4, § 26 TV-L Erl. 5.13.1.4.
Diana Hecht, LL.M. oec., Rechtsanwältin
Weiterlesen für mehr Informationen? Den ganzen Beitrag finden Sie im Breier/Dassau-TVöD-Kommentar.
Quizze zum Arbeits- und Tarifrecht
1. Personalamt Schultz – Helfen Sie Herrn Schultz mit Ihrem Fachwissen und klären Sie spannende arbeits- und tarifrechtliche Fragen!
2. Arbeitsrecht im öD ist trocken? Sie bereiten sich in Ihrem Studium gerade darauf vor? Vertiefen Sie Ihr Wissen – Lernen leicht gemacht!