Abmahnung hat Vorrang vor Kündigung – Eine Zusammenstellung der neuesten Rechtsprechung
Im Bereich verhaltensbedingter Kündigungen sind Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Abmahnung von Arbeitnehmern von großer praktischer Bedeutung.
Insbesondere im Bereich verhaltensbedingter Kündigungen sind Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Abmahnung von Arbeitnehmern von großer praktischer Bedeutung.
Es geht dabei vor allem um
- Begriff,
- Voraussetzungen,
- Funktion,
- Inhalt,
- Form,
- Entbehrlichkeit von Abmahnungen sowie
- um den Anspruch des Arbeitnehmers auf Entfernung einer Abmahnung aus den Personalakten.
Wegen Einzelheiten zu diesen Themen wird auf die Erläuterungen in den Kommentarwerken
- Breier/Dassau/Kiefer/Lang/Langenbrinck, TVöD und
- Breier/Dassau/Kiefer/Thivessen, TV-L,
jeweils in Rn. 205 bis 212 zu § 3 TVöD/§ 3 TV-L Bezug genommen.
Ergänzend hierzu wird im Folgenden die Rechtsprechung der jüngsten Zeit chronologisch dargestellt.
Eine Abmahnung stellt nur dann einen Verzicht auf das Kündigungsrecht des Arbeitgebers dar, wenn dieser mit seiner Vertragsrüge deutlich und unzweifelhaft zu erkennen gibt, dass er den vertraglichen Pflichtverstoß hiermit als ausreichend sanktioniert und die Sache als „erledigt“ ansieht.
(BAG vom 2.2.2006 – 2 AZR 222/05 – ZTR 2006, 434 = NZA 2006, 880; siehe auch BAG vom 6.3.2003 – 2 AZR 128/02 – NZA 2003, 1388)
Bei einer unwillentlichen Verletzung vertraglicher Pflichten kann auch im Vermögensbereich vor Ausspruch einer Kündigung eine Abmahnung ausreichend sein.
(BAG vom 7.12.2006 – 2 AZR 400/05 – NZA 2007, 502)
Die Abmahnung ist nicht nur notwendiger Bestandteil bei der Anwendung des Prognoseprinzips, sondern auch Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 314 Abs. 2 BGB). Unter diesem Gesichtspunkt ist eine vorherige Abmahnung aber ausnahmsweise entbehrlich, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft trotz Abmahnung nicht erwartet werden kann oder es sich um eine schwere Pflichtverletzung handelt, deren Rechtswidrigkeit dem Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar und bei der die Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist.
(BAG vom 19.4.2007 – 2 AZR 180/06 – NZA 2007, 1319; vgl. auch BAG vom 28.1.2010 – 2 AZR 1008/08 – ZTR 2010, 487 = NZA-RR 2010, 461)
Liegt eine ordnungsgemäße Abmahnung vor und verletzt der Arbeitnehmer erneut seine vertraglichen Pflichten, kann regelmäßig davon ausgegangen werden, es werde auch künftig zu weiteren Vertragsstörungen kommen. Dabei ist es für eine negative Prognose ausreichend, wenn die jeweiligen Pflichtverletzungen aus demselben Bereich stammen und somit Abmahnung und Kündigungsgrund in einem inneren Zusammenhang stehen.
(BAG vom 13.12.2007 – 2 AZR 818/06 – NZA 2008, 589)
Mit dem Ausspruch einer Abmahnung verzichtet der Arbeitgeber i. d. R. zugleich auf das Recht zur Kündigung aus den Gründen, wegen derer die Abmahnung erfolgt ist. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Abmahnung selbst oder den Umständen zu entnehmen ist, dass der Arbeitgeber die Sache mit der Abmahnung nicht als „erledigt“ ansieht. Auch wenn das KSchG keine Anwendung findet, kann der Arbeitgeber auf eine Kündigung aus einem bestimmten Grund verzichten mit der Folge, dass das Kündigungsrecht erlischt.
(BAG vom 13.12.2007 – 6 AZR 145/07 – ZTR 2008, 336 = NZA 2008, 403)
Der Arbeitnehmer kann die Beseitigung einer Abmahnung verlangen, wenn diese formell nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist, unwichtige Tatsachenbehauptungen enthält, auf einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Verhaltens des Arbeitnehmers beruht, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt oder kein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers am Verbleib der Abmahnung in der Personalakte mehr besteht.
Darüber hinaus ist eine Abmahnung auch dann zu entfernen, wenn sie statt eines konkret bezeichneten Fehlverhaltens nur pauschale Vorwürfe enthält.
(BAG vom 27.11.2008 – 2 AZR 675/07 – NZA 2009, 842; siehe hierzu auch Hunold, NZA 2009, 830 ff.)
Für die Erfüllung der Warnfunktion einer Abmahnung kommt es auf deren sachliche Berechtigung und darauf an, ob der Arbeitnehmer aus ihr den Hinweis entnehmen kann, der Arbeitgeber erwäge für den Widerholungsfall die Kündigung. Aus der formellen Unwirksamkeit einer Abmahnung (z. B. wegen Nichtanhörung des Arbeitnehmers nach § 13 Abs. 2 Satz 1 BAT) darf der Arbeitnehmer nicht entnehmen, der Arbeitgeber billige das abgemahnte Verhalten. Der Arbeitnehmer bleibt auch dann gewarnt, wenn die Abmahnung an einem Formfehler leidet.
(BAG vom 19.2.2009 – 2 AZR 603/07 – ZTR 2009, 548 = NZA 2009, 894)
Zahlreiche Abmahnungen wegen gleichartiger Pflichtverletzungen, denen keine weiteren Konsequenzen folgen, können die Warnfunktion der Abmahnungen abschwächen. Der Arbeitgeber muss dann die letzte Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung besonders eindringlich gestalten, um dem Arbeitnehmer klar zu machen, dass weitere derartige Pflichtverletzungen nunmehr zum Ausspruch einer Kündigung führen werden.
(LAG Rheinland-Pfalz vom 23.4.2009 – 10 Sa 52/09 – ZTR 2009, 443)
Selbst bei Störungen des Vertrauensbereichs durch Eigentums- und Vermögensdelikte kann es Fälle geben, in denen eine Abmahnung nicht ohne weiteres entbehrlich erscheint. Dies gilt etwa, wenn dem Arbeitnehmer zwar die Verbotswidrigkeit seines Verhaltens hinreichend klar ist, er aber Grund zu der Annahme haben durfte, der Arbeitgeber würde dieses nicht als ein so erhebliches Fehlverhalten werten, dass dadurch der Bestand des Arbeitsverhältnisses auf dem Spiel stünde.
(BAG vom 23.6.2009 – 2 AZR 103/08 – ZTR 2009, 660 = NZA 2009, 1198; vgl. auch Schlachter, NZA 2005, 433, 436)
Bei schweren Pflichtverletzungen kann eine Abmahnung entbehrlich sein. Hier ist nämlich regelmäßig dem Arbeitnehmer die Rechtswidrigkeit seines Handelns ohne weiteres genauso erkennbar, wie der Umstand, dass eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist.
Ob eine Abmahnung ausnahmsweise auch dann die kündigungsrechtliche Warnfunktion erfüllen kann, wenn sie in der Sache nicht gerechtfertigt ist, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Voraussetzung wäre jedenfalls, dass der Arbeitnehmer aus der unberechtigten Abmahnung entnehmen kann, welches Verhalten der Arbeitgeber erwartet und welches Fehlverhalten er als so schwerwiegend ansieht, dass es ihm aus seiner Sicht Anlass zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses geben werde.
(BAG vom 23.6.2009 – 2 AZR 283/08 – NZA 2009, 1168)
Eine Abmahnung setzt die Verletzung vertraglicher Pflichten voraus. Zu beachten ist, dass Weisungen des Arbeitgebers stets billiges Ermessen wahren müssen. Das Weisungsrecht des Arbeitgebers betrifft nicht nur die Konkretisierung der Hauptleistungspflicht, sondern eine nicht abschließend aufzählbare, je nach den Umständen näher zu bestimmende Vielzahl von hinzutretenden Pflichten, deren Erfüllung unumgänglich ist, um den Austausch der Hauptleistungen sinnvoll zu ermöglichen (sog. leistungssichernde Verhaltenspflichten).
In diesem Rahmen kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch zur Teilnahme an Gesprächen verpflichten, in denen er Weisungen vorbereiten, erteilen oder ihre Nichteinhaltung beanstanden will. Jedoch ist der Arbeitnehmer berechtigt, die Teilnahme an Gesprächen, die mit den im Gesetz genannten Zielen nicht im Zusammenhang stehen – z. B. Gespräche mit dem einzigen Ziel einer vom Arbeitnehmer bereits abgelehnten Vertragsänderung – zu verweigern. Eine deshalb erteilte Abmahnung ist rechtswidrig.
(BAG vom 23.6.2009 – 2 AZR 606/08 – ZTR 2009, 600 = NZA 2009, 1011)
Das Schulrecht in Nordrhein-Westfalen verbietet religiöse Bekundungen in der Schule durch Lehrer(innen) und Sozialpädagog(inn)en, die geeignet sind, den religiösen Schulfrieden zu gefährden. Trägt eine Sozialpädagogin muslimischen Glaubens in der Schule zu jeder Zeit eine (Woll-)Mütze, die Haare, Haaransatz und Ohren vollständig bedeckt, kann darin die unzulässige Kundgabe einer religiösen Überzeugung liegen. Eine deshalb ausgesprochene Abmahnung ist wirksam.
(BAG vom 20.8.2009 – 2 AZR 499/08 – ZTR 2010, 205 = NZA 2010, 227)
Entsprechendes gilt für die Abmahnung gegenüber einer Lehrerin, die in einer nordrhein-westfälischen Schule unterrichtet und dabei ein Kopftuch nach muslimischem Religionsbrauch trägt. Dass sie ausschließlich muslimische Schüler unterrichtet und diese freiwillig teilnehmen, führt zu keiner anderen Bewertung. Vielmehr gewinnt die religiöse Neutralität gerade dort Bedeutung, wo ihre Verletzung als religiöse Parteinahme gewertet werden kann.
(BAG vom 10.12.2009 – 2 AZR 55/09 – ZTR 2010, 328 = NZA-RR 2010, 383)
Der Arbeitgeber kann auf das Recht zum Ausspruch einer Kündigung durch eine entsprechende Willenserklärung einseitig verzichten. Ein solcher Verzicht ist ausdrücklich oder konkludent möglich.
Regelmäßig liegt im Ausspruch einer Abmahnung der konkludente Verzicht auf das Recht zur Kündigung aus den in ihr gerügten Gründen. Denn der Arbeitgeber gibt mit einer Abmahnung zu erkennen, dass er das Arbeitsverhältnis noch nicht als so gestört ansieht, als dass er es nicht mehr fortsetzen könnte.
Treten weitere Gründe zu den abgemahnten hinzu oder werden sie erst nach dem Ausspruch der Abmahnung bekannt, sind diese vom Kündigungsverzicht nicht erfasst. Der Arbeitgeber kann sie zur Begründung einer Kündigung heranziehen und dabei auf die schon abgemahnten Gründe unterstützend zurückgreifen.
Kündigt der Arbeitgeber im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit einer vorausgegangenen Abmahnung, kann dies allerdings dafür sprechen, dass die Kündigung in Wirklichkeit wegen der bereits abgemahnten Pflichtverletzung erfolgt, zumal dann, wenn der Arbeitnehmer zwischen Abmahnung und Kündigungserklärung nicht mehr gearbeitet hat. Es ist insb. in einem solchen Fall Sache des Arbeitgebers, im Einzelnen darzulegen, dass neue oder später bekannt gewordene Gründe hinzugetreten sind und erst sie seinen Kündigungsentschluss bestimmt haben.
(BAG vom 26.11.2009 – 2 AZR 751/08 – ZTR 2010, 264 = NZA 2010, 823)
Weitere Entscheidungen zum Thema „Abmahnung“ sind auch künftig in großer Zahl zu erwarten. Neueste Informationen hierzu können Sie an dieser Stelle (rehmnetz.de/tarifrecht) in der Rubrik „Rechtsprechung“ zeitnah nach Veröffentlichung entsprechender Urteile gewinnen. Unsere Experten sichten für Sie tagesaktuell die Rechtsprechung des BAG, überprüfen sie nach Relevanz für das Arbeits- und Tarifrecht des öffentlichen Dienstes und bereiten die Urteile praxisnah auf.
Bernhard Faber
Richter am Arbeitsgericht Augsburg a. D.