Betriebsübergang – Daseinsvorsorge – Rettungsdienst
In einer grundlegenden Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht zu Fragen des Betriebsübergangs im öffentlichen Dienst Stellung genommen.
Orientierungssätze:
- Rettungsdienste nehmen eine im öffentlichen Interesse stehende Aufgabe der Daseinsvorsorge wahr. Dies steht der Annahme eines Betriebsübergangs grundsätzlich nicht entgegen. § 613a BGB findet auch Anwendung, wenn die öffentliche Hand einen privaten Betrieb übernimmt. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Aufgabenübertragung von einer privaten Hilfsorganisation als Leistungserbringerin auf eine andere durch den öffentlich-rechtlichen Träger des Rettungsdienstes.
- Regelmäßig ist die Durchführung des Rettungsdienstes nicht hoheitlicher Art, da sie nicht mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist.
- Bei Rettungsdiensten können die sächlichen Betriebsmittel, also die Rettungsfahrzeuge und die Rettungswachen, identitätsprägend sein.
- Gibt ein Leistungserbringer die ihm überlassenen sächlichen Betriebsmittel des Rettungsdienstes an den Träger des Rettungsdienstes heraus, wird dieser allein dadurch noch nicht zum neuen Betriebsinhaber. Dafür ist entscheidend, ob der Träger des Rettungsdienstes selbst eine Betriebstätigkeit aufnimmt. Daran fehlt es, wenn die materiellen Betriebsmittel sofort anderen privaten Hilfsdiensten zur Durchführung des Rettungsdienstes zur Verfügung gestellt werden.
- Für die Beurteilung eines Betriebsübergangs i. S. des § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB kommt es auf die Übernahme der tatsächlichen Betriebsinhaberschaft an. Nicht entscheidend ist es, ob der Träger des Rettungsdienstes nach öffentlichem Recht verpflichtet gewesen wäre, den Rettungsdienst selbst durchzuführen.
In den Entscheidungsgründen fasst das BAG seine neuere Rechtsprechung zum Betriebsübergang zusammen. Dabei werden auch die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) berücksichtigt.
Kernaussagen:
- Ein Betriebsübergang i. S. von § 613a BGB liegt vor, wenn ein neuer Rechtsträger die wirtschaftliche Einheit unter Wahrung ihrer Identität fortführt. Der Begriff wirtschaftliche Einheit bezieht sich auf eine organisatorische Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur auf Dauer angelegten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung.
- Ob ein im Wesentlichen unveränderter Fortbestand der organisierten Gesamtheit „Betrieb“ bei einem neuen Inhaber anzunehmen ist, richtet sich nach den Umständen des konkreten Falls.
- Als Teilaspekte der Gesamtwürdigung zählen insbesondere
- die Art des betreffenden Betriebs,
- der Übergang materieller Betriebsgüter wie bewegliche Güter und Gebäude,
- der Wert immaterieller Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs,
- die Übernahme der Hauptbelegschaft durch den neuen Inhaber,
- der Übergang von Kundschaft und Lieferantenbeziehungen,
- der Grad der Ähnlichkeit zwischen den verrichteten Tätigkeiten und
- die Dauer einer Unterbrechung dieser Tätigkeit. - Die Identität der Einheit kann sich auch aus anderen Merkmalen ergeben, wie
- ihrem Personal,
- ihren Führungskräften,
- ihrer Arbeitsorganisation,
- ihren Betriebsmethoden und
- ggf. den ihr zur Verfügung stehenden Betriebsmitteln - Den für das Vorliegen eines Übergangs maßgeblichen Kriterien kommt je nach der ausgeübten Tätigkeit und je nach den Produktions- oder Betriebsmethoden unterschiedliches Gewicht zu.
- In Branchen, in denen es im Wesentlichen auf die menschliche Arbeitskraft ankommt, kann auch eine Gesamtheit von Arbeitnehmern, die durch eine gemeinsame Tätigkeit dauerhaft verbunden ist, eine wirtschaftliche Einheit darstellen. Die Wahrung der Identität der wirtschaftlichen Einheit ist in diesem Fall anzunehmen, wenn der neue Betriebsinhaber nicht nur die betreffende Tätigkeit weiterführt, sondern auch einen nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil des Personals übernimmt, das sein Vorgänger gezielt bei dieser Tätigkeit eingesetzt hatte. Dagegen stellt die bloße Fortführung der Tätigkeit durch einen anderen Auftragnehmer (Funktionsnachfolge) ebenso wenig einen Betriebsübergang dar wie die reine Auftragsnachfolge; dasselbe gilt für den bloßen Verlust eines Auftrags an einen Mitbewerber.
- In betriebsmittelgeprägten Betrieben kann ein Betriebsübergang auch ohne Übernahme von Personal vorliegen.
- Der Umstand, dass die von dem neuen Unternehmer übernommenen Betriebsmittel nicht seinem Vorgänger gehörten, sondern vom Auftraggeber zur Verfügung gestellt wurden, schließt einen Betriebsübergang nicht aus. Auch ist im Fall einer Auftragsneuvergabe die Überlassung der Betriebsmittel zur eigenwirtschaftlichen Nutzung keine notwendige Voraussetzung für die Feststellung eines Betriebsübergangs vom ursprünglichen auf den neuen Auftragnehmer.
- Sächliche Betriebsmittel sind im Rahmen einer Auftragsneuvergabe wesentlich, wenn bei wertender Betrachtungsweise ihr Einsatz den eigentlichen Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs ausmacht.
Kriterien hierfür können sein,
- dass die Betriebsmittel unverzichtbar zur Verrichtung der Tätigkeiten sind,
- auf dem freien Markt nicht erhältlich sind oder
- ihr Gebrauch vom Auftraggeber zwingend vorgeschrieben ist. - Wesentliche Änderungen in der Organisation, der Struktur oder im Konzept der betrieblichen Tätigkeit können einer Wahrung der Identität entgegenstehen. Ein Betriebsübergang scheidet auch aus, wenn die funktionelle Verknüpfung der Wechselbeziehung und gegenseitigen Ergänzung zwischen den Produktionsfaktoren beim anderen Unternehmer verloren geht.
- Entscheidendes Kriterium für den Betriebsübergang ist die tatsächliche Weiterführung oder Wiederaufnahme der Geschäftstätigkeit. Einer besonderen Übertragung einer irgendwie gearteten Leitungsmacht bedarf es wegen des Merkmals der Fortführung des Betriebs nicht. Allerdings tritt der Wechsel der Inhaberschaft nicht ein, wenn der neue „Inhaber“ den Betrieb gar nicht führt. Maßgeblich ist die Weiterführung der Geschäftstätigkeit durch diejenige Person, die nunmehr für den Betrieb als Inhaber „verantwortlich“ ist. Verantwortlich ist die Person, die den Betrieb im eigenen Namen führt und nach außen als Betriebsinhaber auftritt.
- Nicht erforderlich ist, dass der neue Inhaber den Betrieb auf eigene Rechnung führt. Unschädlich ist es daher, wenn der Gewinn an einen anderen abgeführt wird.
- Im Rahmen des § 613a BGB gelten die allgemeinen Grundsätze der Darlegungs- und Beweislast: der Anspruchsteller trägt die Darlegungs- und Beweislast für die rechtsbegründenden, der Anspruchsgegner trägt sie für die rechtsvernichtenden, rechtshindernden und rechtshemmenden Tatbestandsmerkmale. Nimmt der Arbeitnehmer den vermeintlichen Betriebsübernehmer in Anspruch, muss er die Voraussetzungen eines Betriebs(teil)-übergangs einschließlich seiner organisatorischen Zuordnung zum übergegangenen Betriebsteil darlegen und ggf. beweisen.
Auf die vollständige Begründung der Entscheidung wird Bezug genommen.
BAG U.v. 10.5.2012
Az. 8 AZR 434/11
Bernhard Faber
Richter am Arbeitsgericht Augsburg a. D.
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