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Corona-Infektionsschutzmaßnahmen: Wie urteilen die Gerichte?

Dr. Margarete Spiecker, Fachanwältin für Verwaltungsrecht und Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht, Regensburg

Neue Rechtsprechung gibt Orientierung auch für Kommunen

An den Infektionsschutzverordnungen der Länder zur Corona-Pandemie scheiden sich die Geister. Die Rechtsprechung hat alle Mühe, über die eingereichten Eilanträge gegen die Infektionsschutzmaßnahmen schnell zu entscheiden. Aktuell sind wieder wichtige Beschlüsse gefasst worden, die zeigen: Die Richter nehmen die möglichen und notwendigen Ausnahmen zu den Infektionsschutzmaßnahmen unter die Lupe, denn das gebieten die Grundrechte. Wie differenziert die Argumentationslinien bei Grundrechtseinschränkungen sein müssen, zeigen die folgenden Entscheidungen, die auch für Kommunen Orientierung bieten, wenn sie in ihrem Wirkungskreis Entscheidungen in der Pandemie treffen müssen.

Bayerische Corona-Ausgangsbeschränkung – triftige Gründe für Ausnahmen verlieren an Kontur und sind verfassungskonform weit auszulegen

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat am 28. April 2020 durch Beschluss (20 NE 20.849) Eilanträge abgelehnt, die darauf gerichtet waren, die Ausgangsbeschränkungen der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 16. April 2020 (2. BayIfSMV) einstweilen außer Vollzug zu setzen. § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV sieht vor, dass das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt ist. In § 5 Abs. 3 2. BaylfSMV werden triftige Gründe beispielhaft aufgeführt, etwa die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen, Versorgungsgänge für die Gegenstände des täglichen Bedarfs und Einkauf in den zulässigerweise geöffneten Ladengeschäften. Ein schuldhafter Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkung stellt gemäß § 7 Nr. 9 2. BayIfSMV eine Ordnungswidrigkeit dar.

Die Antragsteller, die in Bayern wohnen, argumentierten unter anderem, dass dieses von der bayerischen Staatsregierung gewählte Regelungsmodell, eine Kontaktreduzierung über ein Wohnungsverlassungsverbot zu erreichen, zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr verhältnismäßig sei und einer Rechtsgrundlage entbehre. Die Abgrenzung zwischen verbotenem und zulässigem Verlassen der eigenen Wohnung sei zu unbestimmt.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof gibt den Antragstellern nicht Recht. Er zeigt vielmehr auf, dass der Begriff der „triftigen Gründe“, die ein Verlassen der Wohnung ausnahmsweise zulassen, verfassungskonform weit auszulegen sei. Im Grundsatz sei jeder sachliche und einer konkreten, nicht von vornherein unzulässigen Bedürfnisbefriedigung dienende Anlass als ein solcher „triftiger“ Grund im Sinne des § 5 Abs. 2 2. BayIfSMV geeignet, das Verlassen der eigenen Wohnung zu rechtfertigen. Dabei verliere die Beschränkung der Ausnahmen auf „triftige“ Gründe weitgehend an Kontur, da der Regelbeispielkatalog des § 5 Abs. 3 2. BayIfSMV auch durch Anlässe von vergleichsweise geringem Gewicht gerechtfertigt werden könne, nämlich beispielsweise durch jedes subjektive Einkaufsbedürfnis. Zu unbestimmt sei die Regelung aber nicht, denn die Bürger könnten gleichwohl genügend erkennen, ob das Verlassen der Wohnung erlaubt sei oder nicht. Die Ausgangsbeschränkungen könnten überdies auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) gestützt werden.

Bayerische Corona-Verkaufsflächenregelung für Einzelhandelsbetriebe
entspricht nicht dem Gleichheitssatz

Mit Beschluss vom 27. April 2020 (Az. 20 NE 20.793) hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) in einem Eilverfahren bezüglich der Zweiten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (2. BayIfSMV) festgestellt, dass § 2 Abs. 3 und 5 dieser Verordnung mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes unvereinbar sei: Die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung untersagte Einzelhandelsgeschäften den Betrieb, wobei von Anfang an einzelne Betriebe von dem Verbot freigestellt waren, zum Beispiel Lebensmittelgeschäfte. Mit Wirkung vom 20. April 2020 waren durch die 2. BaylfSMV weitere Betriebe wie z. B. Baumärkte und mit Wirkung vom 27. April 2020 zusätzliche Betriebe wie z. B. Buchhandlungen ohne Rücksicht auf die Größe der Verkaufsräume vom Verbot ausgenommen. Gleichzeitig wurden sonstige Einzelhandelsbetriebe freigegeben, soweit deren Verkaufsräume eine Verkaufsfläche von 800 qm nicht überschreiten. Die 2. BaylfSMV war bis 3. Mai 2020 befristet.

Die Antragstellerin betreibt unter anderem auch in Bayern seit dem Jahr 2011 Warenhäuser im Premiumsegment, die teilweise die Verkaufsfläche von 800 qm überschreiten. Sie argumentiert gegen die Betriebsuntersagung, dass die andauernde Betriebsschließung existenzgefährdend sei. Der BayVGH hat ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis stattgegeben, weil die angegriffenen Regelungen in der 2. BayIfSMV nicht mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar seien. Es sei aus infektionsschutzrechtlicher Sicht nicht gerechtfertigt, dass Buchhandlungen und Fahrradläden ohne Begrenzung der Verkaufsfläche freigestellt seien, die großen Geschäfte der Antragstellerin jedoch nicht. Die Richter bemängelten außerdem, dass nach dem Wortlaut der 2. BayIfSMV nicht alle Einzelhandelsbetriebe gleichermaßen eine Begrenzung der Kundenzahl auf einen Kunden je 20 qm sicherstellen müssten. Aufgrund der herrschenden Pandemienotlage und der kurzen Geltungsdauer der 2. BayIfSMV bis 3. Mai 2020 wurden die Bestimmungen nicht wie beantragt außer Vollzug gesetzt, sondern es wurde lediglich die Unvereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt.

Corona-Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen – im Einzelfall muss es wegen der Glaubensfreiheit auf Antrag Ausnahmen geben können

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluss vom 29. April 2020 (1 BvQ 44/20) das Verbot von Gottesdiensten in Kirchen, Moscheen und Synagogen sowie von Zusammenkünften anderer Glaubensgemeinschaften zur gemeinsamen Religionsausübung nach der Corona-Verordnung des Landes Niedersachsen im Wege der einstweiligen Anordnung insoweit vorläufig außer Vollzug gesetzt, als danach ausgeschlossen ist, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen von dem Verbot zuzulassen, wie aus der offiziellen Pressemitteilung des Gerichts zu entnehmen ist:

Der Antragsteller, ein eingetragener Verein mit rund 1300 Mitgliedern, beabsichtigte, insbesondere in den noch ausstehenden Wochen des Fastenmonats Ramadan das Freitagsgebet in der von ihm genutzten Moschee durchzuführen. Er hatte beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht eine Normenkontrollklage mit dem Ziel eingelegt, das in der niedersächsischen Corona-Verordnung enthaltene generelle Verbot von Gottesdiensten insoweit für ungültig zu erklären, als die für Verkaufsstellen und Ladengeschäfte geltenden Schutzvorkehrungen eingehalten werden.

Während der Antrag beim Oberverwaltungsgericht abgelehnt wurde, weil insbesondere die Gefährdungslage bei Einkäufen und Gottesdiensten unterschiedlich zu beurteilen sei, hatte der Antragsteller beim Bundesverfassungsgericht Erfolg. Trotz der möglichen unterschiedlichen Gefährdungslage bei Einkäufen und Gottesdiensten sei mit Blick auf den schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit kaum vertretbar, dass die Verordnung keine Möglichkeit für eine ausnahmsweise Zulassung von Gottesdiensten in Einzelfällen eröffne, in denen bei umfassender Würdigung der konkreten Umstände – eventuell unter Hinzuziehung der zuständigen Gesundheitsbehörde – eine relevante Erhöhung der Infektionsgefahr zuverlässig verneint werden könne. Das gelte jedenfalls angesichts der derzeitigen Gefahrensituation und der sich hieran anschließenden aktuellen Strategie zur Bekämpfung der epidemiologischen Gefahren.

Die Verfassungsrichter gingen vor allem auch auf die Argumentation des Antragstellers ein, dass bei den Freitagsgebeten nicht gesungen werde und beim Gemeinschaftsgebet nur der Imam laut vorbete. Als Schutzvorkehrungen waren angeboten eine Pflicht der Gläubigen zum Tragen von Mund‑Nasen-Schutz, die Markierungen derjenigen Stellen in der Moschee, welche die Gläubigen beim Gebet einnehmen können und eine Vergrößerung des Sicherheitsabstands gegenüber den für Verkaufsstellen geltenden Vorgaben um das Vierfache, um eine gegenüber der Einkaufssituation erhöhte Infektionsgefahr durch das längere Beisammensein einer größeren Personengruppe zu vermeiden. Auch habe der Antragsteller nach Rücksprache mit den zuständigen theologischen Instanzen die Genehmigung erhalten, in der von ihm genutzten Moschee mehrere Freitagsgebete durchzuführen und damit die einzelnen Veranstaltungen klein zu halten.

Bei einem Antrag auf ausnahmsweise Zulassung von Gottesdiensten, wie er nunmehr auch vom Antragsteller eingelegt werden kann, ist maßgeblich für die Risikoeinschätzung das Gewicht des mit dem Verbot verbundenen Eingriffs in die Glaubensfreiheit, das hier insbesondere hinsichtlich des Freitagsgebets im Fastenmonat Ramadan besonders groß ist, aber auf der anderen Seite unter anderem auch die Möglichkeit, die Einhaltung von Auflagen und Beschränkungen effektiv kontrollieren zu können, die örtlichen Gegebenheiten sowie Struktur und Größe der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und nicht zuletzt die – gegebenenfalls auch auf die Region bezogene – aktuelle Einschätzung der von sozialen Kontakten ausgehenden Gefährdungen für Leib und Leben.

Das Bundesverfassungsgericht liegt damit auf einer Linie mit dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und der bayerischen Rechtslage. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte ebenfalls bereits mit Beschluss vom 9. April 2020 (Az. 20 NE 20.704) festgestellt, dass bei religiösen Zusammenkünften auch zu prüfen sei, ob im Einzelfall eine Ausnahmegenehmigung von der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmeverordnung (BayIfSMV) vom 27. März 2020 erteilt werden könne. Diese Verordnung sieht allerdings entsprechende Ausnahmen in § 1 Abs. 1 Satz 3 BaylfSMV ausdrücklich vor, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.

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