Probezeit – Praxisfall „Eigentlich ist sie nie da”
I. Einführung
In der Praxis wird die Probezeit von Arbeitgebern oft nicht konsequent genutzt. Die Gründe dafür sind verschieden: Es fehlt an Ressourcen, um Neueingestellte tatsächlich zu erproben. Andere Personalthemen werden als wichtiger eingestuft. Man hat wenig Neigung, einmal getroffene Entscheidungen nach kurzer Zeit wieder zu überprüfen.
Im Fall „Eigentlich ist sie nie da“ geht das schief. Er gehört zu jenen Fällen aus unserer Beratungspraxis, bei denen von Anfang an Störungen auftreten, die Beteiligten auf Arbeitgeberseite aber zu spät aktiv werden, um auf die Situation zu reagieren.
II. Fall
Personalchef Schmidt war zufrieden. Dass er Dr. Bach für sein Haus gewinnen konnte, war ein Erfolg. Sie hatte so etwas wie einen Namen auf ihrem Gebiet und würde die M. GmbH, ein mittelgroßes öffentliches Unternehmen, zweifellos voranbringen.
Über die Anstellungsbedingungen war man sich rasch einig geworden. Auch für Dr. Bachs Nebentätigkeiten hatte sich eine Lösung gefunden. Sie hatte einen Lehrauftrag an einer privaten Hochschule und hielt von Zeit zu Zeit auf selbstständiger Basis deutschlandweit Vorträge bei Unternehmen. Schmidt war beeindruckt und hatte ihr entsprechende Genehmigungen erteilt. Der Hochschulkurs würde außerhalb der Kernarbeitszeit liegen, und für die Vortragsreisen alle paar Monate würde Dr. Bach Urlaub nehmen. Kein Problem also, dachte Schmidt.
Auch Dr. Bach war zufrieden. Ein neuer Job, eine neue Stadt, ein Neuanfang, ohne oder beinahe ohne Altlasten. Aus der letzten Vortragsreise hatte sie einige kleinere Aufträge abzuarbeiten, und dann gab es noch diese leidige Deadline für ein Fachbuch, an dem sie seit längerem schrieb. Aber das würde sie schaffen. Irgendwie hatte es ja immer funktioniert. Sie kannte es nicht anders.
Dr. Bachs erste große Aufgabe bei der M. GmbH war ein SAP-Projekt, in dem sie den Bereich Prozessanalyse und -optimierung verantworten sollte. Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, schlug sie die Erstellung eines ausführlichen Konzepts vor: „Gute Prozesse sind das A und O“. Einen festen Abgabetermin hatte sie bewusst nicht genannt. Ihr Plan war, das Konzept anzugehen und parallel an den anderen Dingen zu arbeiten, und zwar, ohne dies an die große Glocke zu hängen, zumindest in der ersten Zeit mobil von zu Hause aus.
Die Kollegen in der M. GmbH bemerkten bald, dass etwas nicht stimmte. Am komischsten fanden sie, dass Dr. Bach so wenig in ihrem Büro anzutreffen war und niemand so richtig wusste, wo sie gerade steckte: „Eigentlich ist sie nie da.“

Die Abteilungsleiterin nahm die Sache mit der Anwesenheit anfangs nicht so wichtig. Wenn Dr. Bach zu Hause aus besser arbeiten könne, dann bitte. Was zählt, sind Ergebnisse – und die hatte sie ihr versprochen.
Dr. Bach tat ihr Möglichstes und schien voranzukommen. Aber dann erhöhte der Verlag den Druck wegen des Fachbuchs. Außerdem warteten seit zwei Wochen die 50 Abschlussklausuren ihres Hochschulkurses darauf, korrigiert zu werden. „Die müssen als erstes weg“, entschied Dr. Bach.
Als es mit dem Konzept immer länger dauerte, begann die Abteilungsleiterin sich Sorgen zu machen. Gewiss, sie hatte sich mit Dr. Bach in den vergangenen Monaten regelmäßig darüber ausgetauscht. Alles klang sehr gut, aber ein Papier gab es noch nicht.
Irgendwann musste die Abteilungsleiterin sich eingestehen: „Im Grunde habe ich bisher keine einzige schriftliche Ausarbeitung, nicht einmal einen Entwurf gesehen.“ Das hatte sie sich anders vorgestellt. Sie bot Dr. Bach Hilfe an. Ein konkreter Zeitplan wurde verabredet. Außerdem sollte sie künftig nur noch im Büro arbeiten. Dr. Bach war die ganze Situation sehr unangenehm. Sie entschuldigte sich, erklärte die Verzögerungen mit der Komplexität der Aufgabe und sagte vollen Einsatz zu: „Ich werde mich richtig reinhängen.“
Daraufhin verbesserte sich die Anwesenheitssituation für kurze Zeit. Dann kam der Wendepunkt: Als Dr. Bach wieder einen Tag nicht im Büro erschien, recherchierte ein Kollege im Internet und stieß auf die Ankündigung eines Fachvortrages bei einer auswärtigen Tagung, für den sie keinen Urlaub beantragt hatte. Der Kollege informierte die Projektleiterin. Dieser war klar: „So geht es nicht weiter. Ich muss mit Schmidt reden.“
„Warum haben Sie mich nicht früher informiert?“, ärgerte sich Personalchef Schmidt. „Ich habe Dr. Bach vertraut!“, rechtfertigte sich die Abteilungsleiterin. Schmidt ließ sich alle Einzelheiten berichten und entschied, dass man sich von Dr. Bach trennen soll. Als er dabei war, die Gremienbeteiligung vorzubereiten, stellte er konsterniert fest: „Das schaffen wir nicht mehr innerhalb der Probezeit.“
III. Analyse und Bewertung
1. Agieren der Beteiligten
Analysieren wir das tatsächliche Agieren der Beteiligten anhand der im ersten Teil unseres Buches entwickelten Kriterien:
Erfolgskriterium „Wissen, was gerade passiert“
„Warum haben Sie mich nicht früher informiert?“, ärgerte sich Personalchef Schmidt – in der Tat lag hier eine entscheidende Schwachstelle:
-
Sich informieren als Aufgabe der Personalabteilung:
Niemand aus der Personalabteilung informierte sich über den Verlauf der Probezeit von Dr. Bach. Personalchef Schmidt und seine Mitarbeiter beschafften sich weder von sich aus Informationen über die Bewährung Dr. Bachs noch signalisierten sie den anderen Beteiligten, dass sie von ihnen informiert werden wollten. Möglicherweise rechnete man damit, dass dies bei etwaigen Problemen automatisch geschehen würde.
-
Information weitergeben als Aufgabe von Kollegen und Fachvorgesetzten:
So verhielten sich die Kollegen und die Projektleiterin jedoch nicht. Obwohl sie wussten oder zumindest ahnten, dass Dr. Bach in der Probezeit Pflichtverletzungen beging und jedenfalls von einer Bewährung im Unternehmen keine Rede sein konnte, fand kein, auch kein informeller Informationstransfer in die Personalabteilung statt.
„Wissen, was gerade passiert“, hätte für Personalchef Schmidt bedeutet, dass er sich während der Probezeit proaktiv über die Bewährung der neuen Mitarbeiterin informiert.
Erfolgskriterium „Fakten kritisch bewerten“
„Ich habe Dr. Bach vertraut“, rechtfertigte sich die Projektleiterin – ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.
-
Kritischer Umgang mit Informationen:
Die Projektleiterin bewertete die Situation über lange Zeit hinweg neutral, ohne sich mit der nahe liegenden Möglichkeit auseinanderzusetzen, dass es ein ernsthaftes Problem geben könnte, auf das sie ggf. reagieren muss. Ein Grund hierfür könnte darin liegen, dass sie einen Konflikt mit Dr. Bach und möglicherweise auch mit Schmidt vermeiden wollte.
„Fakten kritisch zu bewerten“, hätte für die Projektleiterin bedeutet, die eigene Interpretation der Situation als nur eine von mehreren Möglichkeiten zu erkennen und zu hinterfragen.
Erfolgskriterium „Zur rechten Zeit eingreifen“
„Das schaffen wir nicht mehr innerhalb der Probezeit“, musste Personalchef Schmidt feststellen – man hatte den rechten Zeitpunkt zum Eingreifen verpasst.
-
Entscheidungssituationen erkennen:
Um im Fall des Falles innerhalb der Probezeit kündigen zu können, sollte der Personalverantwortliche rechtzeitig die Leistung und das Verhalten, das der neue Beschäftigte gezeigt hat, bewerten. Es gilt zu entscheiden, ob es „passt“ und das Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden kann oder ob es „nicht passt“ und Konsequenzen gezogen werden müssen. Dies hat Personalchef Schmidt nicht oder zu spät erkannt.
Neben der im Rahmen der Probezeit generell bestehenden Entscheidungssituation gab es hier weitere Situationen, in denen eine Entscheidung über ein Einschreiten gefragt gewesen wäre, z. B. als Dr. Bach eigenmächtig von zu Hause aus tätig wurde, statt ins Büro zu kommen, oder als sich die Abteilungsleiterin eingestehen musste, dass sie keine einzige schriftliche Ausarbeitung, nicht einmal einen Entwurf gesehen hatte. Auf all diese Situationen konnte Personalchef Schmidt jedoch mangels Information nicht reagieren.
„Zur rechten Zeit einzugreifen“, hätte für Personalchef Schmidt bedeutet, von vornherein einen an den rechtlichen Rahmenbedingungen orientierten Zeitpunkt für die Entscheidung über das Ergebnis der Probezeit zu definieren und einzuhalten.
Ergebnis:
Im Fall „Eigentlich ist sie nie da“ waren die Erfolgskriterien „Wissen, was gerade passiert“, „Fakten kritisch bewerten“ und „Zur rechten Zeit eingreifen“ nicht erfüllt. Dies führte dazu, dass der Arbeitgeber keine Konsequenzen aus der fehlenden Bewährung der neuen Mitarbeiterin gezogen hat. Die Entscheidung, sich von ihr wieder zu trennen, kann er nun nur unter den deutlich schwierigeren rechtlichen Bedingungen umsetzen, die nach der Probezeit gelten.


