Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) hat mit Beschlüssen vom 29.5.2024 (Verg 15/2023, Verg 16/2023, Verg 17/2023, Verg 20/2023) in vier ähnlich gelagerten Fällen die Möglichkeit für einen Ausschluss eines Unternehmens nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB (schwere berufliche Verfehlung) wegen Verletzung vertraglicher Verpflichtungen bejaht, in den konkreten Fällen die Voraussetzungen dafür jedoch als nicht erfüllt angesehen. Dargestellt werden nachfolgend die zentralen Erwägungen im Beschluss Verg 15/2023.
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Die Fälle:
Der Antragsgegner (AG) schrieb in den zugrunde liegenden Fällen jeweils im offenen Verfahren Dienstleistungsaufträge über das Catering in Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber aus. Der Zuschlag sollte in allen vier Fällen an das im Nachprüfungsverfahren beigeladene Unternehmen erteilt werden. Hiergegen wendete sich die Antragstellerin (Ast) u.a. mit dem Einwand, aufgrund erheblicher, nachweislicher Verstöße gegen vertragliche Vorgaben und Normen bei der Durchführung früherer Aufträge sei die Beigeladene nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB auszuschließen.
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Die Entscheidungen:
Im Ergebnis sieht das BayObLG die Voraussetzungen für einen Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB nicht als erfüllt an.
Soweit überhaupt Verfehlungen der Beigeladenen nachweislich seien, sei die Einschätzung des AG, es handle sich weder einzeln noch in der Summe um schwere Verfehlungen, die die Integrität des Unternehmens in Frage stellten und es könne eine positive Prognose für eine ordnungsgemäße Erfüllung der ausgeschriebenen Verträge getroffen werden, nicht zu beanstanden.

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Verletzung vertraglicher Verpflichtungen als schwere Verfehlung
Anders als AG und Beigeladene meinten, könne allerdings auch die Verletzung vertraglicher Verpflichtungen eine schwere Verfehlung darstellen, sofern diese eine solche Intensität und Schwere aufweise, dass der öffentliche Auftraggeber berechtigterweise an der Integrität des Unternehmens zweifeln dürfe. Hierfür spreche bereits der Wortlaut des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB. Vertragsverstöße ließen sich ohne Weiteres als „Verfehlung“ „im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ qualifizieren. Ferner gehe die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 18/6281, S. 105) explizit davon aus, dass eine schwere Verfehlung auch bei der Verletzung vertraglicher Verpflichtungen „z. B. auch bei der Verletzung von Ausführungsbedingungen in früheren Aufträgen“ in Betracht käme.
Entgegen der Ansicht von AG und Beigeladener sowie eines Teils der Literatur ergebe sich aus der Zusammenschau mit § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB nichts anderes. Schon der Systematik des Gesetzes ließe sich nicht entnehmen, dass § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB gegenüber § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB die speziellere Regelung wäre. Auch führe die Anwendung des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB auf vertragliche Verstöße nicht zu Wertungswidersprüchen. Zwar sei zutreffend, dass § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB für den Ausschluss außer der vertraglichen Verfehlung voraussetze, dass diese zu einer vorzeitigen Beendigung, zu Schadensersatz oder einer vergleichbaren Rechtsfolge geführt habe. § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB setze keine derartige Folge voraus. Anstelle dessen käme ein Ausschluss aber, anders als im Rahmen des § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB, nur in Betracht, wenn die Verfehlung von einer Intensität und Schwere sei, durch die die Integrität des Unternehmens in Frage gestellt werde. Dies zeige, dass beide Tatbestände unterschiedliche Anwendungsvoraussetzungen und Zielrichtungen hätten. Damit sei auch nicht zu befürchten, dass durch die Anwendung des § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB auf vertragliche Verfehlungen die Voraussetzungen des § 124 Abs. 1 Nr. 7 GWB umgangen oder ausgehöhlt würden.
Nachweis einer schweren Verfehlung
Nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 muss die schwere Verfehlung nachweislich begangen worden sein. Hierzu weist das Gericht zunächst darauf hin, dass die Frage, ob nachweislich eine schwere berufliche Verfehlung vorlag, die Tatbestandsebene betreffe und daher durch die Nachprüfungsinstanzen voll überprüfbar sei. Insoweit stehe dem Auftraggeber (anders als bei der Prüfung mit prognostischem Charakter, ob die festgestellte schwere Verfehlung die Integrität infrage stelle und eine positive Vertragserfüllung zu erwarten sei) kein Beurteilungszeitraum zu.
Für den Nachweis sei eine rechtskräftige Feststellung der Pflichtverletzung oder eine Verurteilung nicht erforderlich. Der Nachweis könne auch durch schriftlich fixierte Zeugenaussagen, sonstige Aufzeichnungen, Belege, Schriftstücke oder andere objektivierte Anhaltspunkte für die fraglichen Verfehlungen geführt werden. Sofern unter Berücksichtigung der dem Auftraggeber zumutbaren Aufklärungen Zweifel am Vorliegen einer schweren Verfehlung blieben, käme ein Ausschluss nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB nicht in Betracht, auch wenn die Möglichkeit bestehe, dass sich die – von einem Mitbewerber behaupteten – vermeintlichen Verfehlungen durch umfangreiche Zeugenvernehmungen oder Sachverständigengutachten eventuell doch noch bestätigen könnten. In derartigen Fällen seien auch die Nachprüfungsinstanzen nicht zu derartigen Beweisaufnahmen verpflichtet.
Zulässiger Zeitraum für einen Ausschluss
Abschließend stellt das Gericht fest, dass ein Bieter auch dann nicht mehr wegen einer schweren beruflichen Verfehlung nach § 124 Abs. 1 Nr. 3 GWB ausgeschlossen werden könne, wenn die Dreijahresfrist des § 126 Nr. 2 GWB zwar nicht schon bei Angebotsabgabe verstrichen war, aber während des weiteren Vergabe- bzw. Nachprüfungsverfahrens ablaufe.
Welcher Zeitpunkt für den Fristablauf maßgeblich sei, lasse sich der gesetzlichen Regelung nicht entnehmen und werde in der Literatur kontrovers diskutiert. Ein Teil der Literatur vertrete die Ansicht, maßgeblich für den Fristablauf sei die Angebotsabgabe. Nur wenn zu diesem Zeitpunkt die Dreijahresfrist bereits abgelaufen sei, greife § 126 Nr. 2 GWB. Nach der wohl überwiegend in der Literatur vertretenen Ansicht könne eine Verfehlung hingegen auch dann nicht mehr berücksichtigt werden, wenn die Frist erst nach Angebotsabgabe ablaufe. Maßgeblich sei der Zeitpunkt der Zuschlagsentscheidung beziehungsweise, wenn der Ausschluss mit einem Nachprüfungsantrag angefochten wurde, der Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Vergabesenat. Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Hierfür spreche insbesondere der Gleichklang mit § 124 Abs. 1 GWB. Der öffentliche Auftraggeber kann ein Unternehmen bei Vorliegen eines fakultativen Ausschlussgrunds „zu jedem Zeitpunkt des Vergabeverfahrens“ ausschließen. Damit können erst während des Vergabeverfahrens und nach Angebotsabgabe entstandene oder bekannt gewordene Ausschlussgründe zu Lasten des Bieters berücksichtigt werden. Dies spreche aber umgekehrt dafür, auch zugunsten des Bieters den Ablauf der Dreijahresfrist nach Angebotsabgabe noch zu berücksichtigen. Nicht zuletzt müsse eine lange Dauer des Vergabe-/Nachprüfungs- bzw. Beschwerdeverfahrens keineswegs immer auf dem Verhalten des fraglichen Bieters beruhen, sondern könne auch dem Verhalten eines Konkurrenten oder der Vergabestelle geschuldet sein.
Rudolf Ley