Die Vergabekammer des Bundes hat in einem sehr lehrreichen Beschluss vom 29.4.2024 die Voraussetzungen für die Nachforderung von Unterlagen nach § 56 Abs. 2 S. 1 VgV dargelegt.
Beschluss vom 29.4.2024 § 56 Abs. 2 S. 1 VgV
Vergabehandbuch für Lieferungen und Dienstleistungen online
Leitfaden durch das Verfahren, Ablaufschemata, Formularsammlung und alle wichtigen Vorschriften
Der Fall
Die Auftraggeberin (Ag) machte die beabsichtigte (Los-)Vergabe der Lieferung von Röntgengeräten im Rahmen eines offenen Verfahrens im Amtsblatt der EU bekannt. Nach dem Leistungsverzeichnis war dem Angebot eine deutschsprachige Risikobeurteilung gemäß Maschinenrichtlinie in der aktuellen Ausgabe (Richtlinie 2006/42/EG des Europäischen Rates vom 17.5.2006 über Maschinen zur Änderung der Richtlinie 95/16/EG) beizulegen. Dieser Passus fand sich inhaltsgleich in der „Liste der im Vergabeverfahren vorzulegenden Unterlagen und bereitzustellenden Referenzgeräte“ wieder. Dort fand sich auch der Hinweis, dass die geforderten Unterlagen nach Ermessen der Vergabestelle nach § 56 Abs. 2 VgV nachgefordert werden könnten, falls sie nicht bestimmungsgemäß bis zum Ablauf der Angebotsfrist vorlägen.
Im Verlauf des Vergabeverfahrens entstand zwischen dem Beteiligten Streit darüber, ob die von der Antragstellerin (ASt) vorgelegte „Herstellererklärung zur Risikobeurteilung gemäß Maschinenrichtlinie 2006/42/EG Anhang I“ den genannten Vorgaben entsprach bzw. falls dies nicht der Fall sein sollte, eine Nachforderung der Risikobeurteilung in Betracht käme.
Die Ag vertrat die Auffassung, dass das von der ASt eingereichte Dokument den Anforderungen an eine Risikobeurteilung gemäß der Maschinenrichtlinie nicht genüge; in der Erklärung werde lediglich ausgeführt, dass der Hersteller ein Risikomanagement betreibe. Deshalb sei das Angebot nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV auszuschließen, auch lägen die Voraussetzungen für eine Nachforderung der Risikobeurteilung nach § 56 Abs. 2 S. 1 VgV nicht vor.
Nach einer erfolglosen Rüge strengte die ASt ein Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer des Bundes gegen den Ausschluss ihres Angebotes an.
Handbuch für die umweltfreundliche Beschaffung online
Praxisleitfaden
Die Entscheidung
Die Vergabekammer kam zu dem Ergebnis, dass der Ausschluss des Angebotes zu Recht erfolgt sei.
Wirksame Forderung der Unterlage
Zunächst wies die Vergabekammer darauf hin, dass es grundlegende Voraussetzung für einen Ausschluss nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV wegen des Fehlens geforderter Unterlagen sei, dass die betreffenden Unterlagen in den Vergabeunterlagen wirksam gefordert worden seien. Insoweit bestehe für den Auftraggeber die Verpflichtung, die Vergabeunterlagen so klar und eindeutig zu formulieren, dass die Bieter diesen sicher und zweifelsfrei entnehmen könnten, welche genauen Unterlagen wann einzureichen seien. Die Vergabeunterlagen seien entsprechend §§ 133,157 BGB aus der Sicht eines objektiven, mit dem Sachverhalt vertrauten Erklärungsempfängers auszulegen, vorliegend also aus der Sicht eines mit der Herstellung bzw. dem Vertrieb der ausgeschriebenen Röntgengeräte befassten Unternehmens. Verblieben jedoch auch nach Auslegung Unklarheiten und Widersprüche, gingen diese zulasten des öffentlichen Auftraggebers. Von diesen Grundsätzen ausgehend stellte die Vergabekammer fest, dass im vorliegenden Fall die Anforderung, dem Angebot eine “Risikobeurteilung gemäß Maschinenrichtlinie” beilegen zu müssen, für die fachkundigen Bieter zweifelsfrei gewesen sei, die Ag diese Risikobeurteilung mithin wirksam gefordert habe.

Beste Antworten.
Newsletter Vergaberecht
Dieser kostenlose Newsletter informiert Sie regelmäßig über neue Entwicklungen im Vergaberecht. Sie erhalten aktuelle und praxisbezogene Informationen und Produkttipps zu Vorschriften, EU-Vorgaben, Länderregelungen und aktueller Rechtsprechung.
Keine Beifügung der geforderten Unterlage
Daran anknüpfend gelangte die Vergabekammer zu der Feststellung, dass die ASt die wirksam geforderte Risikobeurteilung ihrem Angebot nicht beigefügt habe, so dass ein Angebotsausschluss nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV geboten gewesen sei. Die ASt habe im Nachprüfungsverfahren selbst darauf hingewiesen, dass es nie das Ziel gewesen sei, die eingereichte Herstellererklärung zur Risikobeurteilung als die geforderte Unterlage “Risikobeurteilung” zu qualifizieren; die Herstellererklärung habe vielmehr als alternative Nachweisform gedient. Nach Auffassung der Vergabekammer sei die Vorlage eines alternativen Nachweises aber weder nach dem Leistungsverzeichnis, noch nach den zwingenden Vorgaben der Maschinenrichtlinie zur Risikobeurteilung zulässig gewesen.
Nachforderung der Unterlage nicht möglich
Auch eine Nachforderung der Risikobeurteilung nach § 56 Abs. 2 S 1 VgV kommt aus Sicht der Vergabekammer nicht in Betracht.
Eine geforderte Unterlage „fehle“ im Sinne des § 56 Abs. 2 S. 1 VgV, wenn sie entweder körperlich nicht vorhanden sei oder so schwere äußere Mängel aufweise, dass sie für den vorgesehenen Zweck unbrauchbar sei. Eine Unterlage fehle jedoch nicht, wenn sie körperlich vorhanden und auch vollständig sei, ihr Inhalt aber nicht den Erklärungs- oder Beweiswert besitze, den die Unterlage nach den Vorgaben des Auftraggebers haben sollte. So liege es im vorliegenden Fall. Die ASt habe anstelle der geforderten Risikobeurteilung eine “Herstellererklärung” abgegeben, die nicht den gesetzlichen Vorgaben der Maschinenrichtlinie mit den dort vorgesehenen Inhalten entspreche.
Auch ein Fall der „unvollständigen“ Unterlage im Sinne des § 56 Abs. 2 Satz 1 VgV liege nicht vor. Eine Unterlage sei unvollständig, wenn sie nicht den physischen Umfang hat, den sie haben sollte. Im vorliegenden Fall sei die von der ASt eingereichte Herstellererklärung vollständig gewesen.
Ferner liege kein Fall der “fehlerhaften“ Unterlagen vor. Hiervon könnte ausgegangen werden, wenn die eingereichte Unterlage offensichtliche Unrichtigkeiten, wie z.B. Schreibfehler, enthalten würde. Das sei vorliegend nicht der Fall. Es sei hier schlicht ein falscher Nachweis vorgelegt worden.
Kein Vertrauensschutz aus früheren Vergabeverfahren
Schließlich ging die Vergabekammer noch auf den Einwand der ASt ein, wonach sie in einem früheren Vergabeverfahren eine inhaltsgleiche Herstellererklärung beigebracht habe, ohne dass dies von der Ag beanstandet worden sei. Sie sei daher davon ausgegangen, dass die Ag den “alternativen Nachweis” akzeptieren würde. Die Vergabekammer weist hierzu darauf hin, dass zwar Vertrauensschutzgesichtspunkte nach § 242 BGB dem Vergaberecht nicht fremd seien und im Einzelfall dazu führen könnten, dass ein öffentlicher Auftraggeber eine bisher gelebte Verwaltungspraxis, auf welche die Bieter sich einstellen durften und eingestellt haben, nicht ohne Vorankündigung abändern dürfe. Die ASt habe hier aber bereits keine ausreichenden Anknüpfungstatsachen für eine entsprechende kontinuierliche Verwaltungspraxis der Ag in ihrem Sinne dargelegt. Im Übrigen könne ein Rechtsanspruch darauf, dass eine bislang praktizierte Verwaltungspraxis aus Vertrauensschutzgesichtspunkten aufrechterhalten werde, dann schwerlich greifen, wenn diese Verwaltungspraxis rechtswidrig gewesen sei; dies würde zu einer Aushebelung des gesetzlichen Vergaberechts, das auf EU-Vorgaben zurückgehe, führen. Einen Rechtsanspruch, dass eine Behörde einen als solchen erkannten Fehler wiederhole, erkenne die Rechtsordnung allgemein nicht an.
Verfasser: Rudolf Ley
Weitere Informationen: