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Auswahlverfahren: Sonderpflichten greifen erst mit Gleichstellungsbescheid

Im Auswahlverfahren greifen die besonderen Verfahrenspflichten nach § 164 SGB IX zugunsten gleichgestellter Bewerber erst ab dem Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung, so die Entscheidung des BAG vom 23.11.2023, 8 AZR 212/22.

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BAG, Entscheidung vom 23.11.2023, 8 AZR 212/22

Kernaussage:

Die für das Auswahlverfahren geltenden besonderen Verfahrenspflichten nach § 164 SGB IX greifen zugunsten sog. gleichgestellter Bewerber erst ab dem Zeitpunkt, in dem positiv über ihren Gleichstellungsantrag entschieden wurde. Die gesetzlich vorgesehene Rückwirkung der behördlichen Entscheidung auf das Antragsdatum führt nicht dazu, dass der Arbeitgeber die besonderen Verfahrenspflichten im Vorfeld der Entscheidung „vorsorglich“ beachten müsste.

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Der Fall:

Einem Studenten war im Jahr 2019 ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt worden. Im Mai 2020 schrieb die Bundesagentur für Arbeit ein Förderprogramm für Studierende aus, in dem u.a. für Zeiten der betrieblichen Praxis eine monatliche Praktikumsvergütung vorgesehen war. Am 28.7.2020 bewarb sich der Student auf dieses Förderprogramm. Drei Tage später stellte er einen Gleichstellungsantrag nach § 2 Abs. 3 SGB IX. Am 12.8.2020 fand ein Vorstellungsgespräch statt, in welchem der Student auf den vom ihm gestellten Gleichstellungsantrag hinwies. Am 17.8.2020 erhielt er von der Bundesagentur für Arbeit hinsichtlich des Förderungsprogramms eine Absage. Die Schwerbehindertenvertretung war in Bezug auf die Bewerbung des Studenten nicht beteiligt worden. Durch Bescheid vom 10.9.2020 wurde der Student einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, wobei die Gleichstellung auf den Tag des Antrags (31.7.2020) zurückwirkte. Kurze Zeit später erhob der Student Klage auf Entschädigung nach dem AGG. Er sei aufgrund seiner Behinderung benachteiligt worden, da die Bundesagentur für Arbeit die Verfahrenspflichten nach § 164 Abs. 1 SGB IX verletzt habe.

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Die Entscheidung des Gerichts:

Das BAG verneinte eine Benachteiligung wegen Behinderung und lehnt daher einen Entschädigungsanspruch ab. Zwar sei eine Benachteiligung wegen (Schwer-)Behinderung regelmäßig zu vermuten, wenn ein Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in Bezug auf Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen nicht wie vorgeschrieben beteilige. Der Student könne sich vorliegend jedoch nicht auf die Verfahrenspflichten aus § 164 Abs. 1 SGB IX berufen, weil er in Bezug auf seine Bewerbung nicht als Gleichgestellter im Sinne des § 2 Abs. 3 SGB IX anzusehen sei.

Dies ergebe sich bereits aus dem Wortlaut der Regelungen, wonach diese nur eingreifen, wenn der Bewerber während des Bewerbungsverfahrens bereits schwerbehindert oder durch Bescheid mit einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sei. Soweit über den Gleichstellungsantrag während des laufenden Bewerbungsverfahrens nicht positiv entschieden sei, unterfalle der betreffende Bewerber zu diesem Zeitpunkt nicht dem Anwendungsbereich des Teil 3 des SGB IX. Dies entspreche auch dem Sinn und Zweck der Regelungen. Die danach gewollte Förderung der Einstellung und Eingliederung schwerbehinderter Menschen, könne im Bewerbungsverfahren nur dann gezielt verfolgt werden, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt feststehe, dass sich ein schwerbehinderter oder gleichgestellter Mensch bewerbe.

Daher könne sich ein Bewerber im Fall der Gleichstellung nach § 2 Abs. 3 SGB IX nur dann auf die besonderen Verfahrenspflichten nach § 164 Abs. 1 SGB IX berufen, wenn über den Gleichstellungsantrag bereits positiv entschieden sei.

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Das bedeutet die Entscheidung für Sie:

Bewerben sich schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte Menschen auf eine Stelle, sind durch öffentliche Arbeitgeber besondere Pflichten nach dem SGB IX (z.B. Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung über den Bewerbungseingang oder Einladung der schwerbehinderten Bewerber zu Vorstellungsgesprächen) zu beachten. Diese zusätzlichen Pflichten setzen jedoch voraus, dass objektiv eine Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung vorliegt.

In Bezug auf eine Gleichstellung ist dabei zu beachten, dass die behördliche Entscheidung konstitutiv wirkt. Das heißt, dass ohne die positive Behördenentscheidung gerade noch keine Gleichstellung gegeben ist. Allerdings wirkt die Gleichstellungsentscheidung gemäß § 151 Abs. 2 Satz 2 SGB IX auf das Antragsdatum zurück. Dadurch war bisher umstritten, ob der Arbeitgeber im Fall eines bereits gestellten Antrags nicht auch schon vor der behördlichen Entscheidung verpflichtet sei, den Bewerber vorsorglich wie einen bereits nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten Bewerber zu behandeln.

Mit der vorliegenden Entscheidung des BAG ist diese Frage nunmehr eindeutig beantwortet: Erst wenn die Agentur für Arbeit förmlich die Gleichstellungsentscheidung getroffen hat, sind hinsichtlich des betreffenden Bewerbers die besonderen Pflichten des SGB IX zu beachten. Im Vorfeld der behördlichen Entscheidung ist dagegen weder eine vorsorgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung noch eine vorsorgliche Einladung des Bewerbers nach § 165 Satz 3 SGB IX nötig.

Dr. Till Sachadae, stellvertretender Geschäftsführer der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL)

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