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Urlaub: Tilgungsreihenfolge und Mitwirkungsobliegenheiten bei Krankheit

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BAG, Urteil vom 28.3.2023 – 9 AZR 488/21 –

Wenn Arbeitnehmer während eines Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkranken, kann der Urlaubsanspruch bei einer Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers auch bei andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen. Dies hat das Bundesarbeitsgericht zuletzt so entschieden.

Kernaussagen:

  1. Bei der Erteilung von Urlaub sind die gewährten Urlaubstage zuerst auf den gesetzlichen Mindesturlaub und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen und erst dann auf den tariflichen Mehrurlaub anzurechnen. Nur wenn der Arbeitgeber bei Gewährung des Urlaubs eine hiervon abweichende Tilgungsbestimmung vornimmt, gilt etwas anders.

  2. War ein Beschäftigter im Urlaubsjahr arbeitsfähig, bevor bei ihm eine Langzeiterkrankung eingetreten ist, kann der Urlaub nur dann verfallen, wenn der Arbeitgeber zuvor seine Mitwirkungsobliegenheiten erfüllt hatte.

Der Fall:

Im Streit stehen Urlaubsabgeltungsansprüche einer schwerbehinderten Mitarbeiterin für das Urlaubsjahr 2019. Die Beschäftigte schied am 31.1.2021 aus dem Arbeitsverhältnis aus. Seit 24.7.2019 war sie durchgehend arbeitsunfähig. Im Jahr 2019 brachte sie bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit 17 der ihr zustehenden 35 Urlaubstage ein. Der Arbeitgeber wies sie erst nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit (nämlich am 12.6.2020) darauf hin, dass nicht eingebrachter Urlaub zum Ende des Übertragungszeitraums verfällt.

Nach der Beendigung zahlte der Arbeitgeber der Beschäftigten eine Urlaubsabgeltung für acht Urlaubstage. Er ging davon aus, dass er mit den gewährten 17 Urlaubstagen zunächst den gesetzlichen Urlaub von 25 Tagen anteilig erfüllt habe und der schwerbehinderten Mitarbeiterin deshalb nur noch acht Tage zustünden (17 + 8 = 25). Der tarifliche Mehrurlaub von zehn Tagen sei wegen der lang andauernden Erkrankung unabhängig von der Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten verfallen.

Die Beschäftigte forderte die Abgeltung von weiteren zehn Urlaubstagen. Da der Arbeitgeber bei der Urlaubsgewährung nicht bestimmt habe, welchen Urlaub er zuerst erfüllen wolle, habe er nach § 366 Abs. 2 BGB zunächst den weniger geschützten Tarifurlaub erfüllt. Bei den restlichen 18 Urlaubstagen handele es sich demnach um den gesetzlichen Mindesturlaub, der wegen ihrer dauerhaften Krankheit bei ihrem Ausscheiden noch nicht verfallen gewesen sei. Einem Verfall des Resturlaubs stehe außerdem entgegen, dass der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht rechtzeitig erfüllt habe.

Die Entscheidung des Gerichts:       

Das BAG gab der Beschäftigten im Ergebnis Recht und sprach ihr eine Urlaubsabgeltung für weitere zehn Urlaubstage zu. Zwar habe der Arbeitgeber mit der Gewährung von 17 und der Abgeltung von acht Urlaubstagen den gesetzliche Mindesturlaub von 20 Tagen und den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen gem. § 208 SGB IX von fünf Tagen erfüllt. Daher gelte nicht die bei Arbeitsunfähigkeit für gesetzliche Urlaubsansprüche verlängerte 15monatige Verfallsfrist, sondern die kürzeren tariflichen Übertragungsfristen. Dennoch konnte ein Verfall nicht eintreten, weil der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten bei der Urlaubsgewährung nicht vor dem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erfüllt hatte.

Der 9. Senat stellt erneut fest: Stehen dem Arbeitnehmer im Kalenderjahr Ansprüche auf Erholungsurlaub zu, die auf unterschiedlichen Anspruchsgrundlagen beruhen, findet § 366 BGB Anwendung. Nimmt der Arbeitgeber dabei keine Tilgungsbestimmung i. S. v. § 366 Abs. 1 BGB vor, findet die in § 366 Abs. 2 BGB vorgegebene Tilgungsreihenfolge mit der Maßgabe Anwendung, dass zuerst gesetzliche Urlaubsansprüche und erst dann den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigende Urlaubsansprüche erfüllt werden.

Andererseits bleibt es dabei: Der Urlaubsanspruch kann bei einer Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten auch bei andauernder Arbeitsunfähigkeit nicht verfallen, wenn eine Beschäftigte – wie hier – zu Beginn des Urlaubsjahres noch arbeitsfähig war und ihren Urlaub bis zum Beginn der Arbeitsunfähigkeit hätte einbringen können.

Das bedeutet die Entscheidung für Sie:

Mit der Entscheidung vom 28.3.2023 bestätigt der 9.Senat seine Entscheidungen vom 1.3.2022 (9 AZR 353/21) und vom 20.12.2022 (9 AZR 401/19). Das BAG führt seine Rechtsprechung zur Tilgungsreihenfolge bei Erholungsurlaub („Erst gesetzlicher Urlaub – dann tariflicher Urlaub.“) sowie zu den Mitwirkungsobliegenheiten („Ohne Hinweis kein Verfall“) fort.

Zwar werden immer erst gesetzliche Urlaubsansprüche erfüllt. Die ersten 20 (bei schwerbehinderten Beschäftigten die ersten 25 Urlaubstage) erfüllen den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Tagen (und bei schwerbehinderten Beschäftigten darüber hinaus den Zusatzurlaub des § 208 SGB IX von fünf Tagen). Ganz ausführliche Hinweise dazu finden Sie in der Kommentierung von Breier/Dassau, TVöD Kommentar bei § 26 TVöD, Erl. 6.6.8.

Ein Verfall des verbleibenden tariflichen Mehrurlaubs nach Ablauf der tariflichen Übertragungsfristen (spätestens am 31. Mai des Folgejahres) kann dennoch nicht eintreten, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten verletzt und die Beschäftigten nicht über den zustehenden Urlaub und dessen Verfall informiert hat. In der Kommentierung von Breier/Dassau, TVöD Kommentar zu § 26 TVöD, Erl. 5.1.2 finden Sie zu den Anforderungen, die die Mitwirkungsobliegenheiten an Arbeitgeber stellen, alle relevanten Informationen vom Inhalt, über den Zeitpunkt bis hin zu praxistauglichen Formulierungshilfen.

Wenn die Arbeitsunfähigkeit erst im laufenden Jahr einsetzt, kommt ein Verfall nur in Betracht, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten vorher erfüllt hat. Ganz ausführliche Hinweise dazu finden Sie in der Kommentierung von Breier/Dassau, TVöD Kommentar bei § 26 TVöD, Erl. 5.1.2.9.

Diana Hecht,
LL.M. oec., Rechtsanwältin

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