Bundesverfassungsgericht bestätigt Tarifeinheitsgesetz und stärkt zugleich Spartengewerkschaften
Liebe Leserin, lieber Leser,
das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2017 (u.a. 1 BvR 1571/15) ist der jüngste, aber nicht letzte Akt im Theaterstück „Kollision von Tarifverträgen und Tarifeinheitsgesetz“.
Der Hintergrund: Die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet Arbeitnehmern, sich in Gewerkschaften zusammenzuschließen, um eigene Interessen gegenüber dem Arbeitgeber wirksam durchsetzen zu können. Diese Interessen werden dann in Verhandlungen zwischen Arbeitgebern ggf. Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in einem Tarifvertrag festgelegt. Ein Problem entsteht jedoch, wenn die Arbeitnehmer eines Betriebs bei verschiedenen Gewerkschaften Mitglied sind, damit in einem Betrieb mehrere Gewerkschaften vertreten sind und der Arbeitgeber über die Arbeitsbedingungen mit mehreren Gewerkschaften verhandeln müsste. Zum Drehbuch:
1. Akt – bis 2010: Früher galt der Grundsatz der Spezialität. Das bedeutet, dass der Tarifvertrag im Betrieb Anwendung gefunden hat, der näher am Betriebsgeschehen war. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Grundsatz "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag" bis zum Jahr 2010 vertreten.
2. Akt – 2010 bis 2015: Nach Aufgabe des Grundsatzes "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag" durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts traten verstärkt Arbeitskämpfe von kleineren bzw. sog. Spartengewerkschaften (Piloten, Lokführer, Ärzte) auf. Mit mehr Macht ausgestattet wollten diese Gewerkschaften für ihre Mitglieder tarifliche Forderungen durchsetzen. Dies setzte den Arbeitgeber stark unter Druck, da z.B. der Streik von einer verhältnismäßig kleinen Arbeitnehmergruppe (Piloten) im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft (Bodenpersonal, sonstige Crew) das gesamte Unternehmen betrifft.
3. Akt – 2015 bis 2017: Durch die Einführung des Tarifeinheitsgesetzes im Jahre 2015 bezweckte der Gesetzgeber die Streikmacht der Minderheitengewerkschaften einzuschränken. Mit dem Tarifeinheitsgesetz sollte verhindert werden, dass durch die Arbeitsniederlegung bestimmter Personengruppen an bedeutenden Stellen die gesamte Infrastruktur lahmgelegt wird. Das Tarifeinheitsgesetz stellte den alten Grundsatz "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag" wieder her. Es gilt danach der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft im Betrieb, die über die Mehrheit der Arbeitnehmer im Betrieb verfügt. Der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft, die über eine Minderheit im Betrieb verfügt, wird verdrängt und kommt damit nicht zur Anwendung.
4. Akt – 11.07.2017: Das Bundesverfassungsgericht hält das Tarifeinheitsgesetz entgegen der Klagen und entgegen der Vielzahl an kritischen Stimmen für mit dem Grundgesetz für vereinbar und damit für zulässig. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts weist aber auf folgende Problempunkte hin:
-
Festlegung der Mitgliederzahlen: Um feststellen zu können, wie die Mehrheitsverhältnisse in einem Betrieb sind, müssen die Gewerkschaften vor Gericht offen darlegen wie viele Mitglieder sie haben, was im Ergebnis ihre Verhandlungsposition schwächt.
-
Streikmacht der Berufsgewerkschaft: durch dieses Gesetz wird das Recht der Minderheitengewerkschaft zum Abschluss eines Tarifvertrages nicht auf Null reduziert; im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht versagt ihnen lediglich eine "unbeschränkte Verwertbarkeit" ihrer Machtausübung.
-
Streikmacht der Minderheitengewerkschaft: Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass die Minderheitengewerkschaft weder ihr Streikrecht noch ihre Existenzberechtigung verliert. Vielmehr sollen besondere Schutzvorschriften eingeführt werden, die die Angehörigen von Berufsgewerkschaften – z.B.: Piloten, Lokführer, Ärzte – vor einer einseitigen Vernachlässigung durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft schützen. Aufgrund der fehlenden strukturellen Vorkehrungen bestehe nämlich die Gefahr, dass die Interessen der in Minderheitengewerkschaften organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Tarifabschluss nicht hinreichend Berücksichtigung finden.
-
Verdrängung des Tarifvertrags: § 4a TVG bezweckt aber nicht, dass durch die Verdrängung des Minderheitentarifvertrages dieser gänzlich verschwunden ist. Der Tarifvertrag wird nämlich solange der Mehrheitstarifvertrag eine Materie regelt "auf Eis gelegt", sobald der Mehrheitstarifvertrag jedoch nicht mehr zur Anwendung kommt, oder kein weiterer verdrängender Tarifvertrag besteht, lebt der Tarifvertrag der Minderheitengewerkschaft wieder auf.
5. Akt – bis 31.12.2018: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, bis zum 31.12.2018 nachzubessern. Es sollen Schutzvorkehrungen gesetzlich geregelt werden, die einer Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die Mehrheitsgewerkschaft entgegenstehen.
Ich hoffe diese 5 Akte haben und werden Sie gut unterhalten.
Herzliche (arbeitsrechtliche) Grüße aus München,
Ihr Dr. Erik Schmid

