Urlaubsabgeltung
Der Anspruch auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs besteht bei Arbeitsunfähigkeit ebenso wie der Anspruch auf Abgeltung des Mindesturlaubs weiter. Die Tarifvertragsparteien können dagegen bestimmen, dass der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende tarifliche Urlaubsabgeltungsanspruch erlischt, wenn der Urlaubsanspruch wegen der Krankheit des Arbeitnehmers nicht erfüllt werden kann.(Entscheidung des BAG vom 23.3.2010)
Vorbemerkung
Großes Aufsehen hat im vergangenen Jahr die sog. Schulz-Hoff-Entscheidung des EuGH vom 20.1.2009 (ZTR 2009, 87) erregt. Danach verstößt der Verfall von gesetzlichen Urlaubsansprüchen, die wegen Krankheit nicht geltend gemacht werden konnten, gegen Europarecht.
Diese Rechtsprechung des EuGH hat erhebliche finanzielle Auswirkungen zu Lasten der Arbeitgeber. Darüber hinaus ist das Urlaubsrecht wie kaum ein anderes Gebiet des deutschen Arbeitsrechts dadurch in Bewegung geraten.
Bereits mit Urteil vom 24.3.2009 (9 AZR 983/07 – ZTR 2009, 330) hat das BAG auf diese Rechtsprechung des EuGH reagiert. Es hat entschieden, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, „alten“ gesetzlichen Urlaub abzugelten. Den Abgeltungsanspruch für einen über das Gesetz hinausgehenden Urlaub hat das BAG abgewiesen.
Neueste Entscheidung
Am 23.3.2010 hatte sich das BAG erneut mit der Problematik zu befassen.
Die Pressemitteilung Nr. 25/10 der an diesem Tag unter dem Aktenzeichen 9 AZR 128/09 verkündeten Entscheidung lautet:
Schwerbehindertenzusatzurlaub und Tarifurlaub bei Krankheit
Der vierwöchige gesetzliche Mindesturlaub muss bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nach der neueren Rechtsprechung des Senats auch dann finanziell abgegolten werden, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig krank ist. Der Anspruch auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs besteht bei Arbeitsunfähigkeit ebenso wie der Anspruch auf Abgeltung des Mindesturlaubs weiter. Die Tarifvertragsparteien können dagegen bestimmen, dass der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende tarifliche Urlaubsabgeltungsanspruch erlischt, wenn der Urlaubsanspruch wegen der Krankheit des Arbeitnehmers nicht erfüllt werden kann.
Der schwerbehinderte Kläger war seit 1971 im Außendienst für die Beklagte tätig. Für das Arbeitsverhältnis galt der Manteltarifvertrag für die Angestellten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Der Kläger war von Anfang September 2004 bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses am 30. September 2005 wegen eines schweren Bandscheibenleidens arbeitsunfähig erkrankt. Im Mai 2005 verlangte er erfolglos, ihm den Urlaub für das Jahr 2004 zu gewähren.
Der Kläger hat mit seiner im November 2005 zugestellten Klage Ansprüche auf Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs, des Schwerbehindertenzusatzurlaubs und des tariflichen Mehrurlaubs für die Jahre 2004 und 2005 verfolgt. Die Parteien haben in der Revision nur noch über die Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs und des übergesetzlichen Tarifurlaubs gestritten. Die Beklagte hat die Verurteilung zur Abgeltung der Mindesturlaubsansprüche in zweiter Instanz hingenommen.
Die Klage auf Abgeltung des Schwerbehindertenzusatzurlaubs hatte im Unterschied zu der Klage auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs Erfolg. Der Anspruch auf Schwerbehindertenzusatzurlaub teilt das rechtliche Schicksal des Mindesturlaubsanspruchs. Beide Ansprüche sind am Ende des Arbeitsverhältnisses auch dann abzugelten, wenn der Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist. Die Ansprüche auf Abgeltung des tariflichen Mehrurlaubs gingen demgegenüber nach dem erkennbaren Willen der Tarifvertragsparteien am Ende des tariflichen Übertragungszeitraums unter.
Zusammenfassung
Ein über den gesetzlichen Mindesturlaub von vier Wochen hinausgehender (tarif-)vertraglicher Urlaub kann bei einer langandauernden Erkrankung grundsätzlich auch weiterhin mit Ablauf der Übertragungsfristen verfallen. Voraussetzung dafür seien allerdings „deutliche Anhaltspunkte“ in der jeweiligen Urlaubsregelung, die auf einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien schließen lassen, zwischen dem gesetzlichen und dem übergesetzlichen (tarif-)vertraglichen Ansprüchen zu unterscheiden.
Das BAG hat die Anforderung an diese Differenzierung zwischen gesetzlichen und darüber hinausgehenden tariflichen Urlaubsansprüchen mit seiner Entscheidung vom 23.3.2010 konkretisiert und herab gesetzt. Der neunte Senat führt hierzu aus:
„Deutliche Anhaltspunkte für einen Regelungswillen der Vertrags- oder Tarifvertragsparteien, der zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Urlaubs(-abgeltungs)ansprüchen unterscheidet, sind schon dann anzunehmen, wenn sich die (Tarif-)Vertragsparteien in weiten Teilen vom gesetzlichen Urlaubsregime lösen und stattdessen eigene Regeln aufstellen. Im Fall einer solchen eigenständigen, zusammenhängenden und in sich konsistenten Regelung ist ohne entgegenstehende Anhaltspunkte in der Regel davon auszugehen, dass die (Tarif-)Vertragsparteien Ansprüche nur begründen und fortbestehen lassen wollen, soweit eine gesetzliche Verpflichtung besteht. Eine ausdrückliche Differenzierung zwischen gesetzlichen und übergesetzlichen Ansprüchen ist dann nicht notwendig.“
Auswirkungen auf TVöD & Co.
Mit diesem Urteil stellt das BAG klar, dass bereits dann eine ausreichende Differenzierung vorliegt, die zum Verfall des tariflichen Urlaubs führt, wenn in einem Tarifvertrag eigene vom BUrlG abweichende Regelungen getroffen werden. Die Tarifregelungen des TVöD, TV-V, TV-Ärzte, TV-Fleischuntersuchung, TVAöD, TVAöD-Wald/VKA und TVPöD enthalten tarifliche Regelungen über den Erholungsurlaub, die in wesentlichen Teilen vom BUrlG abweichen und ein eigenes Urlaubsregime bilden.
Somit verfällt der über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende tarifliche Urlaub unter Zugrundelegung der neuen Rechtsprechung des BAG auch im Fall der Nichtinanspruchnahme wegen Krankheit weiterhin. Das haben zwischenzeitlich auch die Arbeitsgerichte Göttingen mit Urteil vom 8.4.2010 (Az.: 2 Ca 235/09) und Koblenz mit Urteil vom 15.4.2010 (Az.: 2 Ca 3118/09) bestätigt.
Hinweise für die Praxis
Die Entscheidung ist von außerordentlich großer praktischer Bedeutung für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes, da hier regelmäßig tariflicher Mehrurlaub gewährt wird. Außerdem beschäftigt der öffentliche Dienst zahlreiche schwerbehinderte Menschen mit gesetzlichen Ansprüchen auf Zusatzurlaub.
Bei der Abgeltung von „alten“ Urlaubsansprüchen ist strikt zu unterscheiden zwischen
- gesetzlichem Mindesturlaub
- gesetzlichem Zusatzurlaub
- tariflichem Mehrurlaub.
Die im Verlag erschienenen Werke haben sich der Problematik bereits eingehend angenommen. Die Vorschriften über Erholungsurlaub (§ 26 TVöD und § 26 TV-L) sind in den Kommentaren
Breier/Dassau, TVöD (Stand: Januar 2010)
und
Breier/Dassau, TV-L (Stand: Februar 2010)
vollständig neu erläutert. Die neueste Rechtsprechung ist eingearbeitet. Zahlreiche Berechnungsbeispiele erleichtern die Arbeit in der Praxis.
Für das neue Tarifrecht in Hessen (§ 26 TV-H) kann die Kommentierung in der vergleichbaren Vorschrift des TV-L herangezogen werden.
Die vom BAG in der o. g. Entscheidung vom 23.3.2010 entschiedene Problematik („Kein Verfall des Mindesturlaubs nach BUrlG, kein Verfall des Zusatzurlaubs nach Schwerbehindertenrecht, jedoch Verfall des tariflichen Mehrurlaubs“) ist insbesondere erläutert in Rn. 50 ff. zu § 26 TVöD/TV-L. Die Kommentierung deckt sich mit der vom BAG in der neuesten Entscheidung getroffenen Rechtsauffassung.
Die in großer Zahl noch vorhandenen „BAT-Anwender“ dürfen darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Urlaubsrecht in der demnächst erscheinenden 200. Aktualisierung zum BAT-Kommentar von Uttlinger/Breier in Überarbeitung erscheinen wird.
BAG, U. v. 23.3.2010
Az. 9 AZR 128/09
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