H. Tholen: Es ist einfacher zu erklären, was man NICHT darunter versteht. Das englische Agile fasst Arbeitsmethoden wie Scrum, Kanban oder Design Thinking zusammen. Es wird häufig mit dem deutschen Wort „agil“ gleichgesetzt, welches wörtlich „beweglich“ oder „flexibel“ bedeutet. Mit „agil“ und „Agile“ verhält es sich aber so ähnlich wie „prägnant“ zum englischen „pregnant“ (Anm. d. Red.: schwanger).
Nämlich gar nicht. Führungskräfte glauben, wenn sie „agilisieren“ würden ihre Mitarbeiterinnen endlich flexibel oder gar bereit sein, sich mehr zu engagieren oder zu arbeiten. Dabei geht es eher darum, mehr Handlungsspielraum und Entscheidungsfreiheit zuzugestehen. Damit tun sich Behörden allerdings schwer. Am schlimmsten finde ich, wenn agil eine Ausrede oder Begründung für Chaos darstellt. Dann ist der Begriff schnell verbrannt.
H. Tholen: Es sind vordergründig agile Arbeitsmethoden, wie Scrum oder Kanban. Dahinter steht aber ein Mindset, eine Einstellung. Zu der gehören unter anderem, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo das Wissen ist und nicht dort, wo die Macht oder Entscheidungsgewalt ist.
H. Tholen: Ein schönes Zitat von Thorsten Dirks, damals als CEO der Telefonica Deutschland war: „Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, haben sie einen digitalen Scheißprozess.“
Meine Frau erhielt mal eine Jobabsage von einer Berliner Behörde per Email, in der stand ernsthaft der Satz: „Zu unserer Entlastung senden wir ihnen ihre Bewerbungsunterlagen zurück.“ Und im Anhang war das PDF mit dem Lebenslauf. Das tut schon weh.
Häufig wird die E-Akte als Sinnbild für die Digitalisierung im Öffentlichen Dienst gesehen. Das ist aber eine nachholende Digitalisierung und keineswegs modern, sondern schlicht notwendig.
Das Organisationsmodell muss an die Bedürfnisse der jeweiligen Empfänger der Dienstleistung angepasst werden.
H. Tholen: Klares ja, und das sehr dringend. Millenials laufen einfach wieder weg, wenn sie erleben, dass es in einer Behörde noch wie 1995 aussieht. Es ist eine völlig neue Erfahrung für den ÖD, dass es eine reale Fluktuation und nicht nur eine innere Kündigung gibt. Und das hat hauptsächlich mit Organisationsstruktur und Führung zu tun. Der wichtigste Punkt ist, dass Führungskräfte sofort mit dem unsäglichen Micro-Management aufhören und beginnen, sich selber als „Enabler“ ihrer Mitarbeiter zu begreifen.
H. Tholen: Das kann man an einem Praxisbeispiel sichtbar machen. Personalabteilungen sind in den meisten Fällen immer noch streng nach Funktion geteilt: Gehalt, Aktenführung, Personalentwicklung, Recruiting, Ausbildung. Das hat u.a. zur Folge, dass bei Neueinstellungen vom Start der Ausschreibung bis zur Unterschrift des Vertrages 4-6 Monate vergehen. Mal ehrlich: welcher Top-Kandidat wartet denn auf dem heutigen Arbeitsmarkt 4 Monate auf eine Jobzusage? Ich wette, das sind schon 2/3 des viel beklagten Fachkräftemangels.
H. Tholen: Die bisher verbreiteten agilen Arbeitsmethoden sind immer PROJEKTmanagement Methoden. Da, wo es ausschließlich um Prozesse geht, haben agile Methoden ihre Grenzen, man kann nur einzelne Elemente übernehmen. Jedoch wird die Prozessarbeit von der Digitalisierung gefressen. Projektarbeit hat in den letzten 20 Jahren kontinuierlich zugenommen. Sie können davon ausgehen, dass alle Tätigkeiten, bei denen Menschen Informationen von A nach B transportieren, in den nächsten 10 Jahren von Computern übernommen werden. Und das sind in klassischen Verwaltungen weit mehr als die Hälfte aller Tätigkeiten.
H. Tholen: Menschen müssen lediglich einigermaßen gern gestalten wollen, sich in Gruppen wohlfühlen und Verantwortung übernehmen wollen. Die allermeisten Menschen bringen das auch qua ihrer Natur mit. Darum funktionieren agile Methoden auch viel „artgerechter“, mit positiven Auswirkungen wie ein geringerer Krankenstand, eine höhere Motivation, eine höheres Commitment. In einer Studie untersuche ich gerade, wie sich agile Methoden auf Mitarbeiterinnnen im öffentlichen Dienst auswirken. Wenn hier jemand aus dem öffentlichen Sektor mitliest und an der Studie teilnehmen möchte, können Sie sich gerne bei mir melden (tholen@psywi.de)! Ganz nebenbei erfahren Sie dann auch noch eine Menge darüber, wie man agile Methoden im öffentlichen Dienst gut einsetzen kann.
H. Tholen: Die haben nicht nur Vorteile, sie erwarten das ganz einfach. Eine Erfahrung, die der ÖD gerade macht und bisher noch nicht kannte ist, dass junge Menschen sich nicht einfach fügen, sondern Ansprüche stellen. Und ich muss ihnen sagen, in den allermeisten Fällen sind diese Ansprüche an ihre Arbeitswelt nicht überzogen. Es gibt außerdem einen natürlichen und angstfreien Umgang mit Technologie. Es wird als Rückständig angesehen, dass man völlig normale Tools (z.B. Trello oder Slack), die die Zusammenarbeit erleichtern, nicht benutzen darf. Entweder hat man also schnell frustrierte Mitarbeitende oder sie kündigen.
H. Tholen: Es gibt einige Leuchttürme. Die Stadt Heidelberg oder Teile der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) haben zum Beispiel recht erfolgreich auf agile Arbeitsmethoden umgestellt. Das ist klasse und davor habe ich großen Respekt. Aber irgendwer im ÖD musste den Anfang machen. Und jetzt habe ich die beste Antwort auf den leider typischen Einwand: „Ja, in der freien Wirtschaft mag das ja gehen, aber im ÖD klappt so etwas nicht.“ Nämlich: Heidelberg.
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