Am 9.9.2025 hat das Europäische Parlament (EP) vor dem Hintergrund der bevorstehenden Reform der EU-Vergaberichtlinien eine Entschließung zur Vergabe öffentlicher Aufträge verabschiedet. Für das EP ist es prioritär, Verfahren zu vereinfachen, stärker die Qualität statt des niedrigsten Preises zu berücksichtigen, KMU besser einzubinden sowie Nachhaltigkeit, Transparenz und Digitalisierung zu stärken.
Wir hatten schon mehrfach darüber berichtet, dass die EU-Kommission eine Initiative zur Evaluation der EU-Vergaberichtlinien eingeleitet hat (Newsletter vom 4.11.2024 und 10.2.2025. Die öffentliche Konsultation dazu ist abgeschlossen, eine Zusammenfassung der Ergebnisse wurde am 14.5.2025 (in englischer Sprache) veröffentlicht. Die Annahme des Evaluationsberichts durch die EU-Kommission ist für das dritte Quartal 2025 geplant, müsste also kurz bevorstehen.
Obwohl das offizielle Gesetzgebungsverfahren noch nicht gestartet ist, hat das EP am 9.9.2025 auf eigene Initiative eine Entschließung zur Vergabe öffentlicher Aufträge verabschiedet, um möglichst frühzeitig die Prioritäten des Parlaments zu benennen.
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Das EP betont, dass öffentliche Aufträge etwa 14 % des EU-BIPs ausmachen und somit ein zentrales Instrument zur Förderung von Wirtschaftswachstum, Innovation, Nachhaltigkeit, regionalem Zusammenhalt, Stärkung von Lieferketten und hochwertigen Arbeitsplätzen darstellen.
Das EP befürwortet die Modernisierung der Vergabekriterien, damit den Fortschritten in den Bereichen Technologie und Sicherheit Rechnung getragen und sichergestellt wird, dass mit den neuen Vergaberegelungen flexibel auf Änderungen im wirtschaftlichen und im geopolitischen Umfeld reagiert werden kann. Dabei verweist das EP auf die Bedeutung der Netto-Null-Industrie-Verordnung 2024/1735 vom 13.6.2024 als Beispiel für Resilienzkriterien u.a. im Zusammenhang mit der Versorgungssicherheit, der Wettbewerbsfähigkeit der EU, der Einhaltung von Cybersicherheitsstandards und der Verringerung der Abhängigkeit von einem einzigen Drittland. Weitergehende Informationen zur Verordnung 2024/1735 finden Sie in Kürze im Handbuch für die umweltfreundliche Beschaffung.
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Praxisleitfaden
In seiner Analyse stellt das EP insbesondere folgende Probleme und Herausforderungen heraus:
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EU-Vergaberichtlinien von 2014 zielten auf mehr Transparenz, Beteiligung von KMU, sozial-ökologische Kriterien etc., aber in der Praxis gebe es erhebliche Defizite.
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(Zu) Viele Vergaben beruhten noch allein auf dem niedrigsten Preis
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Wettbewerbsniveau sei gesunken (Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes aus dem Jahr 2023; Newsletter vom 6.2.2024. Es gebe immer häufiger Verfahren mit nur einem oder gar keinem Angebot
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Komplexität, großer Verwaltungsaufwand, rechtliche Unsicherheiten und uneinheitliche nationale Praktiken behinderten vor allem kleinere öffentliche Auftraggeber sowie KMU
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Wettbewerber aus Drittstaaten mit staatlicher Unterstützung, Überkapazitäten, Subventionen etc. sowie protektionistische Maßnahmen
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Notwendigkeit, strategische Autonomie und Versorgungssicherheit in Schlüsselbereichen (z. B. strategische Güter, kritische Infrastruktur) zu stärken
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Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards würden durch rein preisorientierte Vergabe unter Druck gesetzt
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Noch zu geringe Nutzung digitaler Instrumente und Plattformen bei Vergabeprozessen. Fehlende Interoperabilität der digitalen Infrastruktur
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Fehlende Transparenz und Zugänglichkeit von Ausschreibungsdaten
Daraus leitet das EP im Wesentlichen folgende Forderungen und Empfehlungen ab:
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Vereinfachung, Reduktion der Komplexität. Richtlinien und Regelwerke sollen präziser, klarer, weniger bürokratisch sein
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Anpassung der Schwellenwerte unter Berücksichtigung von Inflation und realer Wertentwicklung, um geringvolumige Aufträge nicht übermäßig zu regulieren
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Sicherstellung, dass Rechtsinstrumente geeignet sind (z. B. ob Richtlinie oder Verordnung sinnvoller), und umfassende Folgenabschätzungen vor neuen Vorgaben
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Mehr Gewicht auf das wirtschaftlich günstigste Angebot statt allein auf den niedrigsten Preis, insbesondere zur Förderung von Nachhaltigkeit, Innovation, Arbeitsbedingungen, Lebenszykluskosten etc.
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Klarere Regeln und Rechtssicherheit für öffentliche Auftraggeber, wann und wie sozial-/umweltbezogene Kriterien angewendet werden können, insbesondere in Bezug auf den „Zusammenhang“ mit dem Auftragsgegenstand
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Abbau administrativer und formaler Hürden für KMU, Start-ups und Organisationen der Sozialwirtschaft
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Stärkung der Losvergabe zur Förderung von KMU
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Kürzere Zahlungsfristen und faire Bedingungen, z. B. Umgang mit Unteraufträgen, bessere Transparenz bei Ausschreibungen
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Bessere Überwachungsmechanismen, Sanktionen, Ausschlüsse bei Verstößen gegen Sozial-, Arbeits- oder Umweltvorschriften
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Aussagekräftige digitale Register zur Auftragsausführung, um ungeeignete Bewerber rasch vom Verfahren ausschließen zu können
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Möglichkeit, geringe formale Fehler zu berichtigen, statt Angebote automatisch auszuschließen, sofern damit keine wesentliche Änderung des Angebots verbunden ist
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„Digital First“-Ansatz: Vermehrte Nutzung elektronischer Verfahren, interoperabler Plattformen, Reduktion analoger Prozesse
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Einführung von EU-weiten Datensystemen, Datenarchitektur für Vergabewesen, evtl. digitaler Pass für Vergabe (insbesondere für KMU)
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Stärkung der Widerstandsfähigkeit der Industrie und der europäischen Lieferketten durch Bevorzugung von Angeboten mit einem erheblichen Anteil an in der EU produziertem Mehrwert
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Sicherstellung, dass die öffentliche Auftragsvergabe nicht zum Mittel protektionistischer Maßnahmen degeneriert. WTO-Verpflichtungen und internationale Abkommen sind zu beachten
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Professionalisierung der öffentlichen Auftraggeber
Die vorstehenden Punkte geben die aus Sicht der Verfasser wichtigsten Aspekte aus der Entschließung des EP wieder. Daneben gibt es noch viele weitere Forderungen und Empfehlungen, die das Dokument etwas unübersichtlich erscheinen lassen. Die Entschließung bildet natürlich auch die unterschiedlichen politischen Lager im EP ab, sodass manche Forderungen und Empfehlungen gelegentlich etwas widersprüchlich bzw. gegenläufig wirken. Unabhängig davon gibt die Entschließung aber einen Vorgeschmack darauf, wie intensiv die Debatte zwischen den EU-Institutionen verlaufen wird. Einen konkreten Gesetzesvorschlag will die EU-Kommission in 2026 vorlegen, der dann zwischen den Mitgliedstaaten (dem Rat), dem Parlament und der Kommission beraten wird. Ein wesentlicher Punkt wird dabei sicher die Reduzierung der Komplexität des Regelwerks sein, hier hat das EP offenbar genau gezählt und erwähnt, dass die aktuellen Vergaberichtlinien einen Umfang von 476 Artikeln bzw. 907 Seiten aufweisen.

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Verfasser: Rudolf Ley/Dietmar Altus